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Istanbul, Berlin, London,…

Rezension von Elisabeth Blasch

Das Leben zwischen den Kulturen, zwischen Istanbul, Berlin und London, und das darin begründete Changieren im pluralen Feld der Identitäten ist aufregend, anstrengend jenseits falscher Romantik und hochaktuell. Yadé Kara schickt in ihren Romanen Selam Berlin (2003) und Cafe Cyprus (2008) den Protagonisten und Erzähler Hasan Kazan, auch Hansi genannt und gebürtiger Türke, auf eine Reise, die ihn quer durch Europa von Istanbul nach Berlin und schließlich weiter nach London führt.


Am Beginn des Romans Selam Berlin steht ein historisches Ereignis, der Fall der Mauer in Berlin 1989, der das Leben des zu diesem Zeitpunkt neunzehnjährigen Hasan entscheidend verändert, beschließt er doch, von Istanbul wieder in seine eigentliche Heimatstadt Berlin und somit zu seinem Vater zu ziehen. Die Dimensionierung eines europäischen Raumes spielt auch für die Familie eine entscheidende Rolle:

 

Für Mama hörte Europa südlich der Alpen auf. Alles darüber war für sie zu nordisch und zu kühl. Baba ging in Opposition. Für ihn begann Europa nördlich der Alpen. Er mochte die Ordnung und Sicherheit auf deutschen Autobahnen. […] Über dieses Thema gerieten meine Eltern sich oft in die Haare, und meistens endete es in der Grundsatzfrage: Wo sollen wir leben? In Berlin oder in Istanbul? Meine Eltern waren das Nord-Süd-Gefälle. […] Aber ich wußte, daß hinter dem Streit meiner Eltern ganz andere Sachen schlummerten. Es war der grundsätzliche Kampf von Neuer Welt gegen Alte Welt. Ost gegen West. (Selam Berlin, S. 10)

 

Die Dichotomien von Nord und Süd, Ost und West spiegeln sich in alltäglichen Gewohnheiten wie auch in der zerbrechenden Familienstruktur wider, die Trennung der Eltern wird durch den Mauerfall und die damit einhergehende Aufhebung alter Ordnungen besiegelt. Hasans Vater besitzt gemeinsam mit dem Onkel ein Reisebüro in Berlin, das sich auf Verbindungen nach Istanbul spezialisiert hat. Das Reisebüro und die Flugverbindungen, die sich täglich am Bildschirm aneinanderreihen, symbolisieren den „Transit“, in dem sich die Kazan-Männer befinden (Selam Berlin, S. 125). Die modernen Transportmittel lassen  Istanbul, Berlin und in Folge auch London als benachbarte Städte erscheinen, die vom symbolischen Zentrum des Reisebüros aus leicht erreichbar sind und durch das Ende des Sozialismus entscheidende Veränderungen erfahren. Die gefühlten Dimensionen Europas werden kleiner. Für den Vater ändert der Fall der Mauer so nicht nur die geschäftlichen Voraussetzungen, sondern dieser verunmöglicht schließlich auch das zuvor geführte Doppelleben: seine bislang in Ostberlin lebende Freundin und ihr gemeinsamer, bereits erwachsener Sohn haben nun auch am Leben im Westen Teil.


Für den Protagonisten Hasan gestaltet sich jenseits familiärer Probleme die Suche nach einer Identität im sich verändernden Berlin als schwierig, obwohl er sich kulturellen und sprachlichen Codes wie ein Chamäleon anpassen kann, wie eine Episode in der Wohnung seiner Cousine zeigt:

 

Ein Koloß öffnete Leylas Wohnungstür. Er schaute auf mich herab. Das Gesicht war ein einziger Schnurrbart. Ich blickte erschrocken zu ihm hoch und fragte mit leisem Räuspern nach Leyla. Keine Reaktion.  Verstand er kein Deutsch? Ich schaltete sofort auf meinen legeren Istanbuler Akzent und erkundigte mich höflich nach Bayan Leyla Kazan. Nichts rührte sich an ihm. […] Keine Reaktion. Plötzlich begriff ich, mit wem ich es hier zu tun hatte. Der breitschultrige Koloß war einer der kurdischen Asylanten, die Leyla betreute. Sofort  schaltete ich um und sagte: „Selam alei kum“ (das verstanden alle von Sarajewo bis
Taschkent). Der Koloß strahlte. (Selam Berlin, S. 10)

 

Dieses ausgeprägte Bewusstsein für Sprache, Akzent und Herkunft ist auch in London immer wieder Thema, ein Aspekt, durch den sich Hasan von zahlreichen anderen Figuren, wie etwa dem Ali Bey in Cafe Cyprus unterscheidet. Hasans Cousine Leyla und sein Vater beherrschen jedoch ebenso wie sein Freund Kazim das Spiel mit ihren pluralen Identitäten perfekt, mit größtmöglicher Flexibilität werden Orient und Okzident, Ost und West kombiniert:

 

Wenn es ums Essen ging, war Baba Osmane, wenn es um Politik ging, Marxist, und wenn es ums Geschäft ging, dann war Baba Kapitalist. Er hatte von allem etwas, wie die Hindus. Viele Götter, viele Möglichkeiten. (Selam Berlin, S. 118)

 

Während sein Vater so seinen Platz gefunden zu haben scheint, wird Hasan beständig von der Frage nach der eigenen Identität vorangetrieben. Das Vermeiden jedweder Festlegung führt ihn schließlich von Berlin aus nach London: „Nicht hier, nicht da, einfach fort sein.“ (Selam Berlin, S. 381) In seiner London Zeit, die durch den Folgeroman Cafe Cyprus abgedeckt wird, versucht Hasan, sich jenseits der Erwartungen seiner Eltern eine eigene Existenz aufzubauen. Zwischen mehreren Jobs und einem Sprachkurs pendelnd erobert er die englische Metropole, in der Immigranten das tägliche Stadtbild prägen, in der der Kolonialismus noch immer spürbar und der Lebensunterhalt schwer zu verdienen ist. Er ist beeindruckt von der Stadt, lässt sich treiben, lernt interessante Menschen und die Härten des englischen Alltags kennen:

 

Dafür zog London mich in seinen Sog, und ich stürzte mich auf diese Stadt wie ein Kind in schäumende Wellen und versuchte, ihre Frequenzen zu empfangen. (Cafe Cyprus, S. 10)

 

Aus der Liebe und ihren Verwirrungen kann er sich dabei weniger gut heraushalten, als aus den politischen Diskussionen im Cafe Cyprus, in dem türkische und griechische Zyprioten in streitender Eintracht die Tage im Exil vergehen lassen. Einmal mehr ist hier die Sprache ein entscheidendes Kriterium, wobei das Englische als scheinbar neutrale Konsenssprache fungiert: „Deshalb heißt es auch CAFE CYPRUS und nicht KIBRIS oder KYPROS.“ (Cafe Cyprus, S.  37) War es in Selam Berlin die Familie, in deren Struktur sich räumlich Grenzen manifestierten, so ist es hier das Café, das, wie die Stadt London selbst, in klar umgrenzte Bereiche gegliedert ist:

 

Eine unsichtbare Green Line – Demarkationslinie –, die Nord- und Südzypern trennte, durchlief das Cafe Cyprus. In der rechten Ecke des Cafes hatten sich griechische und in der linken Ecke türkische Zyprioten an Tischen breitgemacht. Es herrschte eine stillschweigende
Übereinkunft, dass niemand diese Linie übertrat. (Cafe Cyprus, S. 51)

 

Politik und Alltag durchdringen sich in Berlin und London gegenseitig. Mit den Augen von Hasan sieht der Leser die Welt der Immigranten, ihr unterschiedlicher Umgang mit dem englischen Alltag ist dabei ebenso Thema wie die Kindheit im geteilten Berlin, die seine Identität als „Deutschtürke“ entscheidend prägt. Mit kühlem Blick auf seine eigene Position erzählt der Protagonist von den vielen kleinen Details, die das Leben in der Fremde, das Leben zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen ausmachen.

 

Yadé Kara beschreibt in ihren Texten das Leben einer jungen Generation, die sich mit all ihrem Elan und den vielen Enttäuschungen in verschiedenen Städten und Ländern zu Hause fühlen will. Die Einschübe in türkischer und englischer Sprache vermitteln ein authentisches Bild vom Leben dazwischen, die Unterschiede in der Küche werden ebenso thematisiert wie die Tatsache, dass die Liebe sich selten an nationale oder ethnische Grenzen hält. Der Versuch der Autorin, mit Klischees zwar zu spielen, sie aber immer wieder bewusst zu brechen, gelingt über weite Strecken, das freundschaftliche Verhältnis von Hasan zu seiner Berliner Nachbarin, der alten Frau Wessel, widerspricht den Stereotypen deutsch-türkischer Beziehungen. Vergleicht man die beiden Romane in Hinblick auf ihre zentralen Handlungsorte, Berlin bzw. London, so werden die Konstanten und Unterschiede im Leben als „Fremder“, „Immigrant“, „Ausländer“ deutlich.

 

In Berlin waren alle Dunkelhaarigen, Dunkelhäutigen Ausländer. Und diese Ausländer breiteten sich wie ein Ozean aus und umfaßten alle chinesischen Imbißbesitzer, tamilischen Rosenverkäufer, türkischen Gemüsehändler […] Und manchmal stand an der Mauer, an Häuserwänden „Ausländer raus“. Das war halt Berlin. (Selam Berlin, S. 173)

 

Der Fremdenfeindlichkeit in Berlin steht die Gleichgültigkeit in London gegenüber, wo sich das Kennenlernen von gebürtigen Engländern als schwierig erweist. Auch hier gestaltet sich der Einstieg in die englische Gesellschaft für die Angehörigen verschiedener Nationalitäten durchaus unterschiedlich: Inder, Türken und Deutsche haben unterschiedliche Chancen, im Londoner Alltag Fuß zu fassen. Basierend auf diesen Erfahrungen erklären der Erzähler und seine Freunde den gelobten Multikulturalismus zum fragwürdigen Konzept, auch mit vermeintlichen Kosmopoliten wird kritisch abgerechnet:

 

„Wenn du durstig durch die Sahara gegangen bist, Wochen auf einem griechischen Kutter im Mittelmeer ausgeharrt hast, es dann über italienische und spanische Auffanglager nach England geschafft hast – die ganze internationale Erfahrung eines underdog gesammelt hast,
giltst du nicht als KOSMOPOLIT, sondern als asylum seeker, wog, nigger! […] Was mich abturnt, sind diese Typen, die ihr Wissen aus BBC-Programmen beziehen, enzyklopädische Bildung über fremde Kulturen haben. Diese Sofakosmopoliten sollte man FEST in den FETTEN ARSCH treten!“ (Cafe Cyprus, S. 164)

 

Inder und Deutsche, Türken und Engländer, Moslems, Hindus und Christen… Sie alle treffen in Yadé Karas buntem Mosaik aufeinander. Eine junge Generation will zeigen, dass sie an den Grenzen der Eltern nicht festhält und versucht, so manche Mauer zwischen Ost und West, zwischen Britannien und dem Kontinent, zwischen Immigranten und Einheimischen  einzureißen. Gleichzeitig wehrt sich besonders der Protagonist Hasan vehement dagegen, in
eine Schublade gesteckt zu werden:

 

Oft veräppelten wir heimlich die kleinkarierten Denker, die Holzköppe, die uns mit ihren engen Schablonen zu bewerten versuchen, uns als Generation des „Dazwischen“ sahen. […] Wir trugen all die historischen, kulturellen und politischen Gegensätze in uns, und wir wuchsen daran und schlugen Brücken. Wir passten in keine Schablone und waren eigentlich etwas ganz Neues, so ein Gemisch wie uns hatte es nie zuvor auf europäischem Boden gegeben. Das Einzige, was diese Holzköppe mit uns vorhatten, war, dass wir so werden sollten wie sie: eine Sprache, eine Kultur, eindimensional, einschätzbar, in eine Schublade packbar. (Cafe Cyprus, S. 317)

 

Hybride Identitäten werden, so zeigt auch dieses letzte Zitat, in Karas Romanen immer wieder auf den Punkt gebracht, vehement wird auf die Konstruiertheit von persönlichen Identitäten wie europäischen Dimensionen verwiesen, die Bedeutung von sprachlichen und kulturellen Codes wird wiederholt betont. Die Nähe zur Beliebigkeit der Popliteratur, in die sich der literarische Gestus nur scheinbar begibt, wird durch politische Aktualität und das Spiel mit sprachlichen Nuancen konterkariert, die über das postmoderne Aufzählen alltagskultureller Versatzstücke weit hinausgehen.


Rezension von Yadé Kara: Selam Berlin. Diogenes 2003. Yadé Kara: Cafe Cyprus. Diogenes Verlag 2008.

 

Elisabeth Blasch, Wien 2010