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Nina Bunjevac: Vaterland (avant-verlag)

Eine Graphic Novel, die jugoslawische Geschichte begreifbar macht

                                                                            Rezension von Elena Messner

Am Anfang steht ein behutsam begonnenes, noch nicht zufriedenstellendes Gespräch: eine Tochter, die von ihrer Mutter Antworten zu ihrem Vater und ihrer Kindheit sucht. In wenigen Bildern wird die Rahmenhandlung zu einer unglaublichen Familiengeschichte aufgeworfen: Eine Frau in Kanada, die sich der Aufklärung ihrer traumatisierenden "Kindheit zwischen Kanada und Jugoslawien" widmen möchte, so der Untertitel der Graphic Novel, die 2015 in deutscher Übersetzung beim avant-Verlag veröffentlicht wurde.

Danach der plötzliche Sprung in die Vergangenheit, wie eine Schocktherapie: Die Mutter, die vor dem Schlafengehen die Fenster mit Möbeln verbarrikadiert, weil sie Angst vor einem Anschlag hat. Warum sie das tut?

 

Die Antwort darauf werden die dreijährige Tochter, die bei diesen beängstigenden Handlungen mit Unverständnis zusieht, Jahrzehnte danach, und die Lesenden der autobiografischen Graphic Novel erst viele Seiten später erhalten. Weil die Tochter, Nina Bunjevac, dreißig Jahre nach alldem beschließt, zeichnend und schreibend gegen die beunruhigenden Leerstellen in ihrem Leben anzukämpfen.

 

Nina Bunjevac hat diese Szenen bewusst an den Anfang gestellt, um zu verdeutlichen, wie schwierig es ist, sich seiner eigenen familiären Vergangenheit zu erinnern, mehr noch, sich ihr wirklich zu stellen. Aber das Besondere an der Graphic Novel „Vaterland“ ist nicht nur die Kompromisslosigkeit, mit der die Künstlerin der Geschichte ihres Vaters nachspürt, sondern auch die Präzision, mit der sie damit einhergehend die sehr komplexe Geschichte ihres Landes Jugoslawien analysiert.

 

Die Familiengeschichte wird nämlich dazu verwendet, die politische Vergangenheit des sozialistischen Landes nüchtern, genau, distanziert, aber keineswegs emotionslos, aufzuarbeiten. Denn das eine ist ohne das andere nicht denkbar: die soziale, politische, gewaltsame Geschichte des Landes spielte in das Leben ihres Vaters und ihrer Familie von Anfang an brutal mit hinein.

 

Den mit „Exil“ betitelten zweiten Teil der Graphic Novel leitet Bunjevac also keineswegs zufällig mit einer aussagekräftigen Zeichnung: der Kopf ihres Vaters als schemenhaften Umriss, der aus weißen Puzzleteilen besteht. Dies ist ein weiterer autoreflexiver Moment, der auf die aufwendige Recherchearbeit hinter dem Buch verweist: Diese Puzzleteile füllt die Künstlerin danach Seite für Seite aus und setzt ein etwas vollständigeres Bild zusammen. Bedrückend und faszinierend ist es, wie sie die Verstörungen einer ganzen Familie nachzeichnet, die Zerstörung der Psyche ihres Vaters darstellt. Dadurch wird seine Gewaltbereitschaft und die terroristischen Aktionen, an denen er beteiligt war, zwar keineswegs entschuldigt, jedoch begründet und in einen gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt. Zeichnung für Zeichnung eröffnet dieser Teil neue Aspekte rund um Peter Bunjevac, den unbekannte Vater, und die Umgebung voller Armut und Gewalt, in der er aufwuchs. Wir begegnen ihm als Jungen, der an der Gewalt im Zuge des Zweiten Weltkriegs nahezu zugrunde geht, und dessen Vater, ein Serbe, der in Kroatien aufgewachsen war, als Partisan ins KZ verschleppt und dort ermordet wurde, wir lesen vom frühen Tod der Mutter an Tuberkulose, beobachten den verstörten Jungen, der selbst zum Sadisten und bald in die Militärschule geschickt wird, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum fanatischen Antikommunist mutiert, und daher später gezwungen ist, Jugoslawien zu verlassen. In Kanada verfolgte der Vater von Nina Bunjevac seine politische Agenda weiterhin, schloss sich einer terroristischen Gruppe an, die für mehrere Bombenanschläge auf jugoslawische Vertretungen und Tito-Sympathisanten in Nordamerika verantwortlich war. Am Ende kam er mit Komplizen durch eine vorzeitig ausgelöste Explosion ums Leben.

Nina Bunjevac © David Hawe, Infos: http://ninabunjevac.com
Nina Bunjevac © David Hawe, Infos: http://ninabunjevac.com

In Rückblenden und mehreren „Loops“, mit kurzen, prägnanten, explikativen Exkursen zu historischen Diskursen wird dieses Familienportait gezeichnet. Hinter der schwarz-weißen Schlichtheit der Zeichnungen und dem dokumentarisch-nüchteren Ton wird spürbar, welch aufwendige faktenbasierte Recherche die Zeichnerin gemacht hat: zur Geschichte Jugoslawiens (vom monarchischen, über das sozialistische bis hin zu den Kriegen der 1990er), ihrer Familiengeschichte und den vielfältigen Faktoren, die zur Radikalisierung eines Menschen geführt haben. Das alles wird mit unglaublicher Klarheit in Schrift und Bild erzählt.

 

Die Zeichnungen imitieren die dokumentarische Funktion von Fotografien, bei vielen ist zu vermuten, dass ihnen reale Fotos zugrunde liegen. Besonders reizvoll sind auch die zitierten Fotografien, wenn in der Erzählung Figuren Fotos betrachten oder diese weiterreichen. Der zeichnerische Stil – feingestrichelte, realistische Bilder bemüht sich um nüchterne Distanz und berührt darum umso heftiger.

 

"Vaterland" schafft es auf ungewöhnliche Weise, die politische Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert in ausdrucksstarke, zuweilen sogar komische Bilder zu fassen, und zwar aus einer ziemlich ungewöhnlichen Perspektive, die in mehrfacher Hinsicht subversiv ist: Die persönliche, autobiografisch grundierte Geschichte, vor allem aber auch der Blick der Künstlerin darauf und auf die Geschichte Jugoslawiens, lassen sich in kein ideologisches Korsett zwängen, weder ein nationalistisches, noch ein jugoslawisch-sozialistisches. Dabei wäre bei solch einem komplexen Thema und einer Familiengeschichte so voller Widersprüche genug Gefahr gegeben gewesen, inhaltliche Komplexitätsreduktionen oder falsche Zusammenhängen zu kreieren, oder stilistisch weniger wohldosiert vorzugehen. Inhaltlich, kompositorisch wie auch künstlerisch ist aber die Perspektive der persönlich involvierten Künstlerin, die mit großer zeitlicher und räumlicher Distanz offensichtlich langjährige, intensive Arbeit in das ästhetisch und inhaltlich sehr ambitionierte Projekt gesteckt hat, einzigartig und sehr reflektiert. Darin liegt das besondere politische Potenzial des Buches.

 

Beeindruckend sind auch die Frauenportaits in dieser rund um einen Mann komponierten Geschichte: die Mütter, Großmütter, Töchter –  Partisaninnen, Bäuerinnen, Arbeiterinnen, nicht zuletzt die sich selbst portaitierende Künstlerin selbst, sind starke Frauen, die an der erlebten Gewalt und Armut oft auch zu Grunde gehen, oder aber dem Grauen mit einer Portion Trotz und Stolz trotzen, die nur beeindrucken kann.