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Marko Pogačar: Ein Faden, und was dann? Wiener Tagebuch

Kurzprosa. Mit Zeichnungen von Stefanie Pichler

Eines Tages gab ihr eine Zigeunerin einen Faden. Eines Tages im noch frischen Frühjahr, die Kirschbäume waren bereits verblüht, aber die Nester, welche die Schwalben mit Speichel, Schlamm und Dreck in die Fensterrahmen geklebt hatten, waren noch völlig verlassen und still, gab ihr eine Zigeunerin den Faden und sagte: wirf in einem Monat den Faden ins Wasser und dir wird sich ein Wunsch erfüllen. Sie blieb verwirrt zurück. Das alles war Mitte des Monats passiert, und ob sie nun an einen Monat mit 28, 29, 30 oder 31 Tagen dachte, hatte die Zigeunerin nicht gesagt. Und sie verschwieg auch weise alle Details über das Wasser. Sollte es süß oder salzig sein, zahm oder wild, klar oder schlammig und trübe wie das Herz von Ratzinger, das alles musste sie selbst herausfinden; und wissen, unter anderem, dass die wirklichen irdischen Wünsche nicht so einfach und sicher sind wie die am schrecklichen himmlischen Markt.

In meiner Wohnung in der Seegasse lebte eine Russin. Die Russin wohnte im linken Zimmer und ich im rechten, und sie war ganze zwei Köpfe weiter vom Himmel entfernt als ich, und auch wenn sie sich völlig hochreckte, so dass in ihrem kurzgeschnittenen Haar die Regentropfen aufblitzten, konnte sie nicht so wie ich den Kanal überblicken. Darüber hinaus hatte sie keine Ahnung von dem Faden. Außer ihr waren in der Wohnung auch ein Bad, eine Filterkaffeemaschine, die einmal fast ihren Kopf gekostet und mitten in der Nacht die überflüssige Rettung in die Wohnung geholt hatte, ein Set von Gläsern mit dickem Boden, die extrem schwer zu zerbrechen waren, ein durchlöcherter Herrenregenschirm und einige andere Dinge. Über diese Dinge sprach ich nur mit der Russin, obwohl mir gegen meinen Willen in den eisigen frühen Morgen manchmal eine wirklich einzigartige Tischuhr allerlei ins Ohr flüsterte. Die Uhr tickte meist nur albern, das sei zugegeben, die Russin aber schrieb wie ich in der Seegasse ihre Geschichten, Sagen, in denen die Fragen, wie viele Tage der Monat habe und von welchem Wasser die Rede sei, völlig irrelevant waren, und, schlimmer noch, überhaupt nicht erwähnt wurden. Ich hörte also das Klopfen ihrer langen und dichten Sätze, einmal den Klang der Hagelkörner in der Größe von Wachteleiern, die ans Fenster prallten, einmal die Sirene jener überflüssigen Rettung, und, von Stunde zu Stunde, die Räder der Bahn, die in ihrer Sprache sagten: "Friedensbrücke, Rossauer Lände, Schottenring, Schwedenplatz, Landstraße" und dann irgendwo, in der Ferne...

Sie war noch immer weit weg und wusste noch immer nicht, wohin mit dem Faden. Sie füllte und leerte die Wanne, spazierte den vom Hochwasser wildgewordenen Fluss in unserer Stadt entlang, sich ständig umsehend, als ob jemand sie von hinten mit einer Axt oder einem Hammer angreifen wollte, und dachte manchmal, so will es die Geschichte, sogar über das Meer nach. Den Faden als Unterpfand des Wunsches und den Strick, mit dem sie diesen wie einen Maulwurf oder eine Maus an sich band, wollte sie nicht umsonst vergeuden, und auch die kalendarische Frage nach dem richtigen Zeitpunkt machten ihr Sorgen; sie betrachtete das bewegliche rote Häuschen im Kalender mal mit Hoffnung, mal mit Hass, und manchmal nur mit dem unaufhaltsamen Wunsch dort einzuziehen. In der Zwischenzeit lebten die Nester aus Schlamm auf. In ihnen sangen nackte und laute Hälse im Einklang wilde Vogellieder, und der Regen zerschmolz etwas seltener auf den Fenstern. Im linken Raum fand ich ein Mädchen aus Bratislava mit Papier und einem weichen Bleistift vor, das, schon wieder, Geschichten schrieb, eine kurzgeschnittene Frisur hatte, leise sprach und keine Ahnung von dem Faden hatte. Mit ihr sprach ich über große Städte, Filme mit Alain Delon, den Roman Der Stille Don, und nach dem Mittagessen spazierte ich den Kanal entlang, hasste Tee ohne Milch und aß Erdbeeren.

Auf nacktem Stein halb hockend stopfte sich jemand etwas in die blauen Venen, ein Mädchen stolperte auf Rollschuhen über Scherben von Porzellan und riss sich die Hände auf; Die Donau tropfte langsam den Kanal entlang, aus sich heraus in sich selbst zurück, wie die Waggons der grünen Linie, Friedensbrücke, Rossauer Lände, Schottenring, Schwedenplatz, Landstraße, um dann irgendwo, in der Ferne, wo das Wasser ins andere Wasser mündet…

 

Dann war es Zeit, dass sie unsere Stadt verließ. Also ging sie. Und kam zurück. Sie kam glücklich, aber verwirrt, mit der ersten Hitze, leicht; die Zeit zerrann wie brüchige Zähne durch die Finger, es waren schon viele Tage vergangen, seit die Zigeunerin gesagt hatte was sie zu sagen hatte, und immer noch plagten sie Zweifel. An welchem Tag und in welches Wasser genau sollte sie den Faden werfen? Sie wusste es nicht, aber mehr als alles andere wünschte sie sich, wie bei Freud oder in einem spanischen Märchen, ihren Wunsch. Ich war keine Hilfe: Ich hatte keine Ahnung von Zigeunerinnen, Wasser und Zeit, ich war nicht einmal sicher, wie genau das mit dem Februar ging, ich hatte mir nur gemerkt, dass sich zu dieser Zeit Katzen paaren. Das ist vollkommen in Ordnung, denn anschließend ergibt das einen Haufen Kätzchen, und das ist schön. Über den Faden wusste ich nur grundlegende Dinge: dass er leicht reißt, dass es ihn in verschiedenen Farbtönen gibt, dass er Löcher stopft und durch Stellen, durch die Kamele nicht gehen können, kommt.

Aber wo bleibt sie da, mit ihrem großen Leid? Sie spaziert neben mir den Kanal entlang, linkerhand fährt die Bahn vorbei, die grüne Linie, rechterhand ist der Wasserfluss, und sie entscheidet sich hinüberzugehen. Auf die Brücke führen metallene Spiraltreppen, die unter unseren Körpern knarren (das Gewicht nehme ich auf mich), die Graffiti verstehe ich nicht, der Wind wirbelt durch Blätter und Haar, und Spinnen flattern durch die Luft wie ein betrunkener Tarzan, wie kleine Scheißhaufen in dickem Fell. Über dem Wasser, im Niemandsland (links liegt der neunte, rechts der zweite Bezirk) löst ihr dieser heiße Wind die Hand, denn die Hand will gelöst werden, und der schmutzige Faden fliegt plötzlich in den Himmel, fällt, der Strom hebt ihn für einen Moment wieder, und zieht ihn dann zurück ins Wasser, ins trübe Herz des Papstes; in einen bestimmten, aber unbekannten Strom, er fliegt lautlos nach unten und fließt weiter wie im Fahrplan vorgesehen: Friedensbrücke, Rossauer Lände, Schottenring, Schwedenplatz, Landstraße, und dann irgendwohin in die Ferne. Wo die Zigeunerinnen echt sind und Wünsche blühen wie tausend Blumen und dann stumpf verwelken, wo das Wasser ins andere Wasser fließt und nichts gewiss ist, nicht gewiss sein kann.

 

 

 

Übersetzt von Elena Messner