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Monolog für eine Frau, die manchmal spricht

Rezension von Martina Wunderer

Medea, Gattin des Jason, Mutter, betrogene Geliebte, Mörderin. Ein Urbild in Mythos und Dichtung, eine literarische Gestalt, die Ivana Sajko in den Kontext politischer Gegenwart integriert und in neuer Weise gestaltet. Während die Medea der gleichnamigen Tragödie des Euripides als grausame Rächerin an ihrem untreuen Gatten Jason, dessen Geliebten und den gemeinsamen Söhnen auftritt, deutet bereits Christa Wolf die Rolle der Medea grundlegend anders. In ihrem Roman Medea: Stimmen ist diese nicht mehr Mörderin und damit Täterin, sondern Sündenbock der Gesellschaft. Unschuldig wird die starke, unabhängige Frau an den Pranger gestellt, um von der eigenen Schuld und Ohnmacht abzulenken.


Auch Ivana Sajko greift den Mythos in Archetyp: Medea auf und schreibt ihn aus feministischer, gesellschaftskritischer Perspektive um. Der gewählte Titel dient dabei als intertextuelle Markierung, welche die Leser auf die richtige Spur bringen soll. Denn obwohl die Handlung mit der antiken Tragödie nichts mehr gemein hat, setzt Sajkos Stück dessen Kenntnis voraus. Die Medea Sajkos reflektiert die Rezeptionsgeschichte ihres Mythos im  Hinblick einerseits auf die Last des literarischen Erbes, andererseits auf tradierte  gesellschaftliche Frauenbilder und Geschlechterrollen hin.

 

„It’s hard for me to speak as a woman.“ [...] Es fällt mir schwer, als Frau zu sprechen. Ich könnte eine Frau sein, wie andere Leute schizophren sind, und meine Gebärmutter in der geschlossenen Faust eines großen Mannes verstecken. (9)

 

Die Frau steht im und stellt sich in den Schatten des Mannes, schamhaft, schweigsam, „schwach und zerbrechlich sein, das war mein Empfinden von Schönheit.“ (9) Alles Irritierende, Erschreckende, jegliches subversive Potential ihrer Rollenfigur wird von Sajkos Medeadarstellerin geleugnet. Sie setzt sich gegen die überlieferte Dramenfigur – die Rächerin – ab, indem sie nicht den Mord an den anderen plant, sondern ihren Selbstmord imaginiert.

 

Wenn ich wüsste, dass ich zu Asche verbrennen könnte, und wenn ich sicher wäre, dass man mich mit Sand oder Staub verwechseln würde, dann würde ich mich ins Feuer werfen. (9)

 

Sajkos Medea weiß, dass sie als Subjekt nur denn aus ihrem eigenen Drama und aus ihrer traditionellen Rolle ausbrechen könnte, wenn sie sich selbst auslöschte. Doch selbst dieser Ausweg bleibt ihr letztlich verwehrt, da die Figur Medea, deren Namen sie wie ein Stigma trägt, längst in den gemeinsamen Erfahrungsschatz der Gesellschaft eingegangen ist – darauf verweist bereits der im Titel anzitierte psychologische Begriff ‚Archetypus’, wie ihn C. G. Jung verwendet: als urtümliches Bild, als Ergebnis unzähliger innerer und äußerer Erfahrungen, welche aufgrund eines angenommenen kollektiven Unbewussten Allgemeingut geworden sind. Sajkos Medea ist eine solche archetypische, überzeitlich gültige Gestalt, die nicht mehr selbstbestimmtes Subjekt, sondern Gemeinbesitz der Gesellschaft ist, Objekt der Überlieferung, der Zu- und Ein-Schreibungen:

 

Als wäre die Sünde eine Krankheit, fürchten sie sich, mir nahezukommen, als wäre ich tätowiert, als stünde dieser verfluchte Name überall auf mir geschrieben. [...] Ich möchte mein Leben noch einmal denken. Ich empfinde keine Schuld. (10)

 

Mit dem Hinweis auf die „Sünde“ und der Verneinung jeglichen Schuldbewusstseins nimmt der Monolog Medeas deutlich Bezug auf den Euripides’schen Prätext, ohne dessen Kenntnis die Rede von ihrem „verfluchte[n] Namen“ oder ihrer „Schuld“ keinen Sinn ergibt. Zwar probt Medea in dieser Szene den Aufstand gegen ihr literarisches Vorbild, indem sie sich von der Tat der mythischen Medea freizusprechen sucht, doch vermag sie sich nicht gegen das rezeptionshistorisch bedingte Muster durchzusetzen, das sie selbst – wenn auch in der Negation – herbeizitiert: „ Ich will nicht Medea sein.“ (10) Dem negativen Bild, das die Gesellschaft von ihr hat, versucht sie durch Unterwürfigkeit und Bescheidenheit  entgegenzutreten, sie fügt sich widerspruchslos in das Idealbild einer Ehefrau und Mutter, das die traditionelle Figurenzeichnung von Medea konterkariert:

 

Es war ein Feiertag. Wir mussten früher aufstehen, uns grau anziehen und schmale Schuhe überstreifen. Denn es ist unschicklich, in der Öffentlichkeit einen breiten Fuß zu zeigen, vor allem für eine Frau, die die Narben einer Entbindung trägt. Sie muss zugeknöpft sein, fest
geschnürt, die Brüste dem Mann und das Halbprofil den Anderen zuwenden. Eine Haltung der Unterstützung und des Gehorsams. (10)

 

Anders als ihr literarisches Vorbild inszeniert sich Sajkos Medea als schamhafte, unterwürfige, gehorsame Frau, die sich passiv im Hintergrund hält und keine eigene Stimme hat. Sie spricht von sich in der dritten Person - „Sie muss zugeknüpft sein“ – und vermeidet es zunächst, ich zu sagen. Sie ist kein autonomes Subjekt, sondern in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter stets bezogen auf andere, auf ihren Mann und die Kinder. Nur in dieser Funktion darf sie sprechen. Die Inszenierung – „Wir steigen auf die hölzerne Bühne. Er stellt sich hinter das Rednerpult. Ich stehe hinter ihm. Die Kinder neben mir.“ (11) – lässt ihr kaum Handlungsspielraum, sie muss die Regieanweisungen befolgen, darf nicht aus der Rolle  fallen, um den schönen Schein nicht zu gefährden.

 

Wie ein Märchen... Du darfst ihnen mit deinen Geschichten keine Angst machen. Sie dürfen nicht wissen, was geschehen wird. Say: „...and then, they lived happily ever after.“ (12)

 

Der Dramentext verfolgt hier eine doppelte Strategie: einerseits legt er Medea auf ihre fürsorgliche Mutterrolle fest, andererseits unterläuft er diese Festlegung, indem er sie als Lüge, als Heuchelei enttarnt und den überlieferten Mythos als widerspenstigen Subtext einführt. „Man gab mir einen Namen, den jeder gerne hörte; nicht Frau, nicht Mutter, nicht Liebhaberin, nein – Medea.“ (12) Dieser Name birgt Gefahr und Chance zugleich, er stempelt die Sprecherin einerseits stets aufs Neue zum Sündenbock und verbannt sie dadurch ins gesellschaftliche Abseits. Doch gerade hier, außerhalb der Konvention, könnte es ihr gelingen, sich als Subjekt zu emanzipieren und sich von den Zurichtungen und  -schreibungen anderer zu befreien.

 

Medea, wo hast du die Waffen versteckt? [...] Hier – meine Hände; leer, ohne jede Spur, hier – meine Brüste; hohl, ohne jede Spur, hier – mein Bauch, mein Hals, mein Rücken, meine  Füße; alles ohne Spuren. Ich hinterlasse keine Spuren. Ich trage die Waffen in mir, ich habe  Pistole und Messer, Gift und Bombe verschluckt, es klappert in mir, wenn ich laufe und jeden Moment kann ich explodieren. (14-15)

 

In dieser reinen Anwesenheit, in der Ausstellung des nackten weiblichen Körpers, löst Medea Artauds Forderung nach einem vitalen Theater, das nicht mit Sprache als Zeichen für Abwesendes operiert, sondern über den Körper das Leben selbst auf die Bühne bringt, ein. Medeas Gestalt, gezeichnet von den Spuren der Unterdrückung, den „Narben einer  Entbindung“ (10), „in vollgekotztem Grau ... mit aufgeplatzten Schwielen ... in der Schlammgrube... mit Blumen und Dornen.“ (12) – verkörperte im ersten Akt noch leiblich jene barbarische Mnemotechnik des Schmerzes, wie sie auch heute von Soldaten, die die Frauen des Feindes vergewaltigen, verübt werden. Zahllos sind die Opfer im ehemaligen Jugoslawien, nur selten brechen sie ihr Schweigen und sprechen von ihrem Schmerz und ihrer Scham. Das Gedächtnis an die Verbrechen wird durch die einfallenden Truppen direkt in den weiblichen Körper graviert und auf diese Weise als Bestätigung von Herrschaft  funktionalisiert. Doch gelingt Medea im zweiten Akt der Widerstand gegen die Rolle als Opfer gesellschaftlicher und diskursiver Gewalt, die der erste Akt ihr zugedacht hatte, sie revoltiert gewaltsam gegen die Ausgrenzung und Hierarchie der Geschlechter:

 

In der rechten Hand halte ich ein Messer. [...] Beim ersten Stich spüre ich den Widerstand des Gewebes – und Ekel. Beim zweiten spüre ich nichts mehr. [...] Die Pistole. [...] Ich schieße. Ein leichter Krampf im Hals. Ich hole Luft. Ich schieße noch einmal. Ich denke nicht an die Pistole. Ich denke an dich. Liebst du mich? (15)

 

Medea gibt hier das Beispiel einer sich durch spontanes blindwütiges Aufbegehren selbst befreienden Kraft. Der Strafe einen Sinn geben, könnte die polemische Begründung für ihre gewalttätige Selbstermächtigung lauten. Schuldlos durch die Gesellschaft verurteilt, begeht sie das Verbrechen, das ihr angelastet wird und greift zur Waffe. Was sie im ersten Akt als ungerechte Schuldzuweisung erlebt hat – Mörderin zu sein - wird hier auf neuer Ebene wieder ins Spiel gebracht: als Augenblick der Gefahr aber auch der Chance, die Opferrolle zu durchbrechen, das Bild, das die anderen von ihr haben, mit ihrem Selbstbild zu Deckung zu bringen und auf diese Weise wieder souveränes Subjekt zu werden: Der Name Medea – eine selbsterfüllende Prophezeiung. So gibt es Medea am Ende auf, eine Neudefinition ihrer Figur zu versuchen, die anderen von ihrer Unschuld zu überzeugen. Nachdem sie das Drama Medeas wiederholt und die vom Prätext vorgeschriebene Rachetat erneut vollübt hat, streift sie den Namen und die Rolle, die ihr durch die Literaturgeschichte und durch die Gesellschaft vorgeschrieben waren und sich ihrer bemächtigten, endgültig ab und macht sich frei von allen tradierten Zwängen: „Medea, die Frau, die ich nicht bin.“ (17)

 

Und ich sage ihr: „Siehst du, es ist nicht die ganze Wahrheit, dass dich alles, was ich geschrieben habe, unglücklich gemacht hat.“ (17)

 

Rezension von Ivana Sajko: Archetyp: Medea in Dies: Archetyp: Medea /Bombenfrau / Europa. Trilogie. S. 7-19, Theaterbibliothek, Verlag der Autoren: Frankfurt a.M., 2008. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer.

 

Martina Wunderer, Berlin 2010