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BEING RICHARD SCHUBERTH

 

Elena Messner führte ein schriftliches Werkstattgespräch mit Richard Schuberth anlässlich des Erscheinens seines Romans „Bus nach Bingöl“ (Drava 2020).

 

Lieber Richard, fangen wir mit dem eigentlichen Anfang deines Buches an – dem Cover, das als paratextuelles Signal auf den Inhalt ausstrahlt, bevor wir auch nur eine Seite gelesen haben. Darauf ist ein Busbahnhof zu sehen; darüber der Titel, der das Leitmotiv des Busses aufgreift. Man ist sofort versucht, in der Romantik von Road-Movies und Busfahrten mit exotischen Destinationen zu versinken. Das wird aber durch das von Realismus strotzende Bild von vornherein ironisiert – man könnte von einer Ästhetik des subversiv Hässlichen sprechen?

 

Das Cover, das ich sehr schön finde, war nicht als Subversion des Hässlichen konzipiert. Was aber eine interessante Diskussion eröffnen könnte, denn auch dieses Konzept als Gegenentwurf zur vorherrschenden Verhochglanzung führt – über den allen Dingen aufgedrängten Warencharakter – letztlich zu einer Ästhetisierung des vermeintlich Hässlichen und treibt ihm die Subversion flugs wieder aus; die Melancholie verrostender Güterbahnhöfe und Raffinerien, die romantische Suburbia-Ballade etc. Ich habe lange nach einem geeigneten Sujet gesucht, und war dankbar, das Buchcover selber mitgestalten zu dürfen. Mein Freund Mehmet Emir, kurdisches Gastarbeiterkind, ist neben vielem anderen auch Fotograf, wie sein Vater schon vor ihm, der bereits in den 1970er Jahren das Leben der Gastarbeiter aus der Türkei in Wien mit seinen Bildern dokumentiert hat. Dieses Bild hat der 18-jährige Mehmet um 1980 herum im heute nicht mehr existierenden Busbahnhof von Istanbul geschossen. Es besitzt eine wunderbare Dramatik: Alle Busse sowie der Mann auf der Terrasse weisen in eine Richtung, den Fluchtpunkt des Bildes, die Straße nach Osten. Wir haben das Bild farblich gesättigt, um diesen Retro-Agfa-Touch zu bekommen, plus zart türkisem Himmel. Damit wird über den tristen Realismus ein Schleier der Nostalgie gelegt, ganz wie in der selektiven Erinnerung meiner Hauptfigur, die sich im Buch ja selbst an die „agfafarbenen Tage“ erinnert. Die Farben waren damals vermutlich die gleichen wie heute, doch die Erinnerung hat ihre eigenen Filter, farbliche und andere ...

 

Cover und Titel führen uns nicht in die Irre, und im Roman finden wir uns dann auch tatsächlich bald auf einem Busbahnhof wieder: „Wie hässlich der Busbahnhof war. Esenler Otogar. Doch sogar das gefiel ihm. Hier erst fing Anatolien an.“ Und ein großer Teil der Handlung spielt in einem Bus, einem sog. Inertialsystem, das erzähltechnisch gewisse Vorteile bringt. Im Inneren dieses Busses herrscht scheinbare Ruhe. Dieser ist aber in ständiger Bewegung, womit bereits zwei Begriffe benannt wären, die als Grundstruktur deines Textes gelten könnten: Bewegtheit und Stillstand gleichermaßen. Andererseits ist der Bus, im Vergleich zum Flugzeug, oder zum romantisierten Zug, als Transportmittel der Armen auch eine intensive Kontaktzone, schon durch die Enge des Fahrzeugs und die lange Reisezeit, die vielen Stopps. Welche Rolle spielte das Motiv der Busreise beim Schreiben für dich?

 

Als Ort der sich von dort aus spinnenden Reflexionen und Erinnerungen führt die Busreise wohl durch etwas weniger als die Hälfte des Romans. Inspiriert bin ich sicher von Klassikern des Westerns wie John Fords „Stagecoach“ und Martin Ritts „Hombre“, bei denen eine bunt zusammengewürfelte Gruppe die Postkutsche durch die Sierra nimmt und es auf engem Raum zu persönlichen und sozialen Reibungen kommt. Der Bus ist im konkreten Fall nicht nur das Verkehrsmittel der Ärmeren, sondern auch der Älteren. Wie im Buch beschrieben – Flüge sind gar nicht so teuer –, bevorzugen die Jüngeren die günstigen Überlandflüge nach Elazığ, Diyarbakır oder Bingöl. Es sind die Alten mit Flugangst, ihren Gewohnheiten, und auch diejenigen, die, wie du gemeint hast, die Busreise als soziales Ereignis und den Bus als Kontaktzone empfinden, im Gegensatz zum rein zweckgebundenen Schnelltransport durch die Luft. Einige Passagiere im „Bus nach Bingöl“ haben aber ganz konkrete Gründe, warum sie dieses Verkehrsmittel nehmen. Ahmet Arslan aus Sentimentalität, die Unternehmerin Dilek, weil sie den Flieger versäumt hat, der Reiseschriftsteller Alfred Horn, um sich umzubringen, und die unheimliche AKP-Aktivistin Hatice, um junge Frauen zu belästigen.

Friedhof mit Blick auf den Berg Sülbüs. Foto: R. Schuberth
Friedhof mit Blick auf den Berg Sülbüs. Foto: R. Schuberth

 

Dazu passt das im Roman früh als ironisches Zeichen gesetzte Motiv eines Sarges, der eine Tote im Bus in ihre Heimat transportieren soll: „In diesem Augenblick trugen vier Männer einen groben quaderförmigen Sarg durch den Warteraum. Er war mit einem grünen Seidentuch bedeckt, auf dem in arabischer Schrift eine Sure gestickt war.“ Groteske trifft hier auf Realität, der Sarg, der etwas in sich verbirgt, lässt sich aber auch als Objekt der Heimat und Heimatlosigkeit lesen?

 

Der Sargtransport im Kofferraum hat rein praktische Gründe und ist ausnahmsweise gar nicht ironisch gemeint. Er kommt billiger als die Exklusivüberführung im Leichenwagen. Du kennst das ja von der Praxis am Erdberger Busbahnhof, wo man dem Busfahrer was zusteckt, damit er Güter, Post etc. nach Ex-Yu transportiert, bzw. wo man es sich abholt. Ich selbst hab das schon oft so gemacht. Und in diesem Fall wird eben eine Leiche mitgegeben. Vor fünf Jahren wohnte ich im Dorf Conag an der Grenze zu Dersim einem Begräbnis bei, zu dem der Sarg genau auf diese Weise angeliefert wurde. Transportiert wird im Roman eine alte Frau, die in Istanbul nie heimisch wurde und in ihrem Herkunftsort beerdigt wird, wo zumindest eine Dorfgesellschaft ihr die Würde abstattet, die ihr Leben und ihre Familie ihr vorenthielten. Somit ist der Sarg sehr wohl mit dem Widerspruch von Heimat und Heimatlosigkeit aufgeladen.

 

Das führt mich zu den vielen Gattungen, die du im Roman miteinander verbunden hast. Da wäre zuallererst die Road Novel oder die Reise in die Kindheit. Mit dem genretypischen Rückkehrermotiv wird dann ein Familienroman verbunden, die versuchte und nicht richtig gelingende Rückkehr nicht nur zur, sondern vielmehr in die Familie, zu Bruder und Mutter. Darüber hinaus liegt hier aber auch ein politischer Roman vor, der eine Vielfalt von Themen bündelt: allem voran ein Thema, das man gut und gerne als Desiderat in der österreichischen Gegenwartsliteratur bezeichnen könnte: Kurden in der Türkei und Kurden in Österreich. Mir gefiel und fiel da besonders die Explizität der Gewaltszenen auf: Unterdrückung, Folter, Vergewaltigungen, auch an Männern, und Flucht werden auf eine für die österreichische Literatur ungewöhnliche plastische Art dargestellt. Außerdem lässt sich die Darstellung des Wiener Umfelds der Hauptfigur auch als eine Art Hommage an – fast vergessene – politische Bewegungen in Österreich lesen. Als ein interner Widerstandskampf der türkisch-kurdischen Linken, gespiegelt in den inneren Widersprüchen der Hauptfigur Ahmet, der in Wien fast eine Art Verbürgerlichung erlebt, einen nur halb erfolgreichen sozialen Aufstieg – aber eben nur einen äußerst brüchigen?

 

Zunächst: Vergewaltigungen werden im Buch nicht beschrieben, aber erwähnt. Ich weiß nicht, ob Ahmet in Wien verbürgerlicht ist. Und ob gelegentliche, meist mies bezahlte Dozenturen an der Uni als akademische Karriere bezeichnet werden können, ist auch fraglich. Zur Zeit seiner Rückkehr bezieht er sein Einkommen als Sozialarbeiter. Seine Lebensumstände bleiben also relativ prekär. Und er holte an der Uni in Wien die poststrukturalistischen Strömungen nach, weil er mit dem oft verbohrten und dogmatischen Geist des Marxismus seiner Jugend zunehmend unzufrieden wurde. Ahmet wird ja kein angepasster „Postmoderner“, doch ist ihm dieses sich nicht mit radikaler Phraseologie und dem selbstgerechten Pathos der eindeutigen Haltung zufriedengebende philosophische Naturell eigen. Und das ist sein Hauptwiderspruch, wobei nie ganz klar wird, auch ihm selbst nicht, wie viel sein Kampfgeist durch altersbedingte Abnützung und Desillusionierung, Sehnsucht nach Bequemlichkeit oder Abscheu gegenüber zu einfachen Wahrheiten einbüßt. So ist seine Rückkehr in Dorf und Kindheit auch in die eines maßgerecht zusammengestylten alevitischen Ethos, der für ihn über Leninismus und Poststrukturalismus hinaus Bestand hat, ebenso ehrenhaft wie selbstgefällig, sein ritterlicher Nonkonformismus und eine wahrheitsergebene Unkorrumpierbarkeit. Damit erklärt er sich selbst seine mangelnde Resonanz und seine ausgebliebene Karriere. Es wäre zu einfach, das als Rationalisierung abzutun, und selbst wenn, liefert er damit dennoch, mit seiner müden Wange an die kalte Busfensterscheibe gelehnt, zwischen all dem neckischen Spiel der Ungewissheiten die einzige naiv-positive Botschaft des Buchs: ein Manifest des Sich-und-der-Wahrheit-Treubleibens. Das aber nicht nur positiv gedeutet wird.

 

 

Felsvorsprung am Fuß des Bergs Düzgün Baba, auf welchem der Epilog des Romans spielt. Foto: R. Schuberth
Felsvorsprung am Fuß des Bergs Düzgün Baba, auf welchem der Epilog des Romans spielt. Foto: R. Schuberth

 

Abgesehen von diesen Aspekten enthält der Roman Elemente eines Reiseromans, der lyrische Töne, etwa bei den Naturbeschreibungen, aufweist. Andererseits werden solche genretypischen Muster zumeist wieder von Sarkasmus durchbrochen; du bezeichnest diese nostalgisch-mystifizierten Landschafts- und Tierbeschreibungen in einem Interview einmal als „Marken der Sentimentalität“. Andererseits lässt sich dein Buch als interkultureller Roman über Migration einer politischen Gruppe, eben die Kurden in Wien lesen. Ahmet wird nach seiner Flucht aus der Türkei fast ein Vorbilds-Bürger in Wien. Er gehört zur Multikulti-Szene, ist eine Projektionsfläche für österreichische Idealisierung und Exotisierung, aber auch für romantische Hoffnung von Linksliberalen. Gleichzeitig projiziert er selbst politische, überhöhende Hoffnungen auf einen utopischen kurdischen Ort.

 

Ein zentraler Widerspruch ist folgender: dass Ahmet Arslan ja in Wien nichts macht, als dem Romantizismus, den Konstruktionen und Projektionen der anderen entwurzelten Kurden, Linken, Aleviten, Dersimer etc. mit kritischem Realismus zu begegnen, aber diesem Bedürfnis selbst nicht entkommt. Eben weil er diesem so konsequent widerstanden hat, glaubt er sich mit einem kleinen eskapistischen Urlaub belohnen zu dürfen. Nicht nur, aber auch spiegelt das das Bewusstsein vieler Linker seiner Generation wider, die Leerstelle der nicht eingelösten marxistischen Hoffnungen mit der kulturellen Aufwertung ihrer Herkunft, vor allem des Alevismus zu füllen. Als Antinationalist ist er mit der kurdischen Sache zwar solidarisch, aber traut ihr zugleich nicht über den Weg. Als nichtreligiöser Mensch erfüllt er sich seine religiösen Bedürfnisse mit Ethik und Brauchtum der alevitischen Lehre, die Intellektuelle wie er stets als Philosophie, als eine zugleich vor- wie postreligiöse Weltanschauung konzipieren. Dadurch ist er trotz aller Reflexion und Distanz doch der exemplarisch postmoderne Mensch, der mittels Ironie und Differenzierungsvermögen etwas für wahr und gleichzeitig unwahr halten kann. Das ist ein zentraler Punkt in vielen meiner Texte, dieser ständig dräuende, gefährliche Kipppunkt zwischen einer undogmatischen, dialektischen Denkweise und einem Relativismus, der so tut, als würde er vieles durchschauen, und der doch nur zu Unentschiedenheit und Handlungsunfähigkeit führt.

Zu dieser Unentschiedenheit, Ironie oder differenzierten Haltung passt die Vielzahl an stilistischen Mitteln und wechselnde Erzählhaltungen, derer du dich bedienst: Da gibt es Reflexionen, innere Monologe oder Bewusstseinsströme, Rückblicke bzw. Rückblenden, erinnernde Gespräche, all dies verbunden durch eine auktoriale Erzählinstanz, die man mal mehr, mal weniger spürt. Es gibt Stellen, die man atmosphärisch als grausamen Realismus beschreiben könnte, und dann solche, die wie Inszenierungen märchenhaft wirkender Stoffe wirkt; mythisch-poetische Träume treffen auf grotesken Humor, dokumentarisch-essayistische Berichte auf Naturbeschreibungen, und diese wieder auf selbstreflexive Positionsbestimmungen der Figuren. Das verlangen komplexe Themen wie die von dir gewählten ja auch. Während andere Texte sich oftmals auf modische Sujetlosigkeit und permanente Autoreferentialität zurückziehen, oder eine behauptete, aber nur scheinbare Distanz gegenüber den in ihnen verhandelten Themen vorgeben, gibt es bei dir eine Art schonungsloses Hindrängen, faktentreues Hinschauen, ein positionierendes und gegenpositionierendes Zersägen, ein kompromissloses, erzählerisches Aufreißen von Wunden – und zwar auf Handlungs- bzw. Figuren-Ebene ebenso wie hinsichtlich der berstenden Struktur und Stilistik des Romans. Passagen voll sprachlich schonungsloser Konkretheit oder aufdeckerischer Direktheit werden durch figurale Multiperspektivität und stark gesetzte Kontraste flankiert. Was mir immer wieder auffällt: Die Erzählstrategie des Grotesken, die du sicherlich nicht meidest, dient nie der Belustigung, sondern der Herstellung von Ambivalenz, genau wie die scharfen Kontraste und die Drastik nicht dem Schockeffekt dienen, sondern der Tiefengrundierung der Figuren und ihrem Handeln. Und das Dokumentarische bzw. die erinnernde Reflexion der Figuren geben sich nicht didaktisch, sondern als Verstärker von Verräumlichung und Verzeitlichung des Dargestellten.

 

Ich habe mich wohl – möglicherweise gar nicht so bewusst – meinem Ideal eines polyphonen Romans genähert. Der auktoriale Erzähler zieht sich wie der liebe Gott im Deismus von seiner Schöpfung zurück und fungiert nur mehr als Mediator, als strukturierende Metanistanz, damit sich die Multiperspektivität nicht ständig ins Wort fällt. Das schwebt mir vor. So wie in der idealen Konzeption des Essays jeder Satz Zentrum des Ganzen und Teil der reflektorischen Bewegung zugleich ist, bilden die Erzählstränge, Perspektiven und Widersprüche der Personen und ihrer gesellschaftlichen Verstrickungen keine lineare Progression. Im vorliegenden Roman gibt es sehr wohl eine konventionelle narrative Progression, die sich mit dieser Polyphonie vermischt. Oder anders gesagt: Ich mische sie bei, hebe sie unter, wie man in der Sprache des Kochbuchs sagen würde. Dass sich solch ein Konzept nicht in Beliebigkeit verliert, sondern in eine höhere Ordnung auflöst, ist die fast unlösbare Aufgabe, die uns der Roman als Kunstform stellt. Das verstehen vor allem manche Linke nicht, die sich in Literatur nur wohlfühlen, wenn sie Haltungen, Thesen, Identifikationspotenzial, also littérature engagée bietet, und die Ambivalenzen der Erzählung unerträglich, als Verdunkelung, als Rückfall hinter erreichte Stadien der Wahrheitsfindung empfinden. Was sie dabei nicht verstehen: dass diese Ambiguität nicht Relativierung, sondern das Sprungbrett zu einer höheren Objektivität ist. Es gibt dieses Sprichwort: Mit voller Hose lässt’s sich leicht stinken. Nach diesem Modell ließe sich auch sagen: mit selektiver, simpler und selbstreferenzieller Wahrnehmung lässt’s sich leicht eine klare Haltung einnehmen, aber man muss schon eine ganze Kerlin, ein ganzer Kerl sein, um der chaotischen Inkohärenz der Wirklichkeit ins Auge zu schauen und trotzdem Gesinnung zu haben. Somit kann Prosa hinter Texte zurückfallen, die wie wissenschaftliche Literatur oder Essays Wahrheit explizieren, oder über diese hinausweisen.

Ich lese dein Buch als eines, das nicht nur Transterritorialität zu erzählen wagt, sondern Aterritorialität imaginiert – und zwar nicht nur durch die zerrissene Biografie und Psychologie seiner Hauptfigur, sondern auch in Form der zahlreichen Bewegungslinien und Stopps des Busses, die ins wortwörtliche Nichts führen wird – also: in den mystische Kern der Projektion seiner Hauptfigur, in dessen nicht mehr existierendes Herkunfts-Imaginarium. Der Roman hätte darum mit Fug und Recht eine Kategorisierung als „postkolonial“ verdient, und zwar im Sinne jenes „postcolonial global“, das Geeta Kapur – nicht die indische Bollywood-Choreografin, sondern die indische Kuntskritikerin – als „radical critical art“ bezeichnet. Die inszenierte Provinzialität in dem Roman ist eben gerade – global. Und die sich besonders global denkend gebenden Figuren sind umso mehr – provinziell. Im Grund provinzialisierst du nicht nur den Großteil deiner Figuren, du provinzializierst damit Europa, und die Türkei, du provinizialisierst auch politische Bewegungen und Werturteile. Und dieser Schritt ist zugleich immer ein umgekehrter – nämlich ein globalisierender.

Das stimmt, obwohl ich mich nicht explizit in die Tradition postkolonialer Theorie setzen würde, die selbst sehr heterogen ist, aber in manchen ihrer Ausprägungen fürchterlich dumm und essenzialisierend. Richtig ist, dass ich mit den diskursiven Polaritäten Zentrum-Peripherie, Westen-Trikont, Kolonialisator-Kolonisierte, modern-archaisch, eigene und fremde Kultur Schlitten fahre, aber nicht zugunsten einer paternalistischen Aufwertung der jeweils letzteren Begriffe. Die Gegensätze durchschlieren einander. Wie gesagt, trotz aller Solidarität ist mir die ideelle Aufwertung und Essenzialisierung der Subalternen ein Gräuel. Ich will bloß die Sich-überlegen-Dünkenden abwerten. Das tut die Figur Ahmet Arslan auch nicht, sie bleibt immer skeptisch. Auch gegenüber der Homogenisierung eines Kurdentums. Ahmet weiß, dass der moderne Rechtsstaat und sein Exil eine überlegene Gesellschaftsform vorstellen, er will bloß in der archaischen, vormodernen Welt seiner Kindheit nach Artefakten suchen, mit welchen sich die verunglückte Moderne wieder auf Kurs bringen ließe. Auf einer gewissen Ebene sind Dörfer überall gleich, und Städte sind angefüllt mit Dörflern, die bloß über ein größeres Konsum- und Identitäts-Angebot verfügen. Tatsache ist aber, dass Wien – Istanbul – Holike (der Name von Ahmet Arslans Heimatdorf. E. M.) eine Realitätsachse bilden. Identitären Grenzziehungen will ich das Wasser abgraben. Der Orient ist in uns. Und vielleicht ist mein Bemühen um kulturelle Authentizität nicht nur, aber auch der Aufgabe geschuldet, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Lokalem und Universellen besser verständlich zu machen.

Der Roman ist in diesem Sinne als Suche nach Halt und Haltung in einer politisch zerfasernden, schwer greifbaren, nur noch als Brutalität und Provinzialität erlebten Realität. Der Text als metareflexives Monster, dass politische, soziale und psychologische Identitäts- und Erzählmuster auseinandernehmen möchte, ohne zu behaupten, dass es nicht auch selbst – denn nichts anderes ist Narration – neue produziert. Dieses auf der Handlungsebene mehrfach variierte doppelbödige Spiel kommt insbesondere in der zerrissenen Hauptfigur, die von den Widersprüchen seiner politischen, transkulturellen, ökonomischen Lebensrealität gebeutelt wird; Ahmet als ein von seinen Mitmenschen – je nach deren eigener Positionierung – exotisierter, teils auch erotisierter, dann wiederum verachteter „Kurde in Wien“, im Unterschied zum „Kurden in der Türkei“, der er vor seinem Weg ins Ausland war.

Und selbst ein erotisierender Kurde. Hier ist es vielleicht passend anzumerken, dass der politische Kampf, in dem Ahmet jung war, eine internationalistische Agenda hatte. Ein beträchtlicher Teil seiner Akteure waren Kurden, eine überproportional hohe Zahl aus Dersim, doch sie sahen ihren Aktionsraum in einer explizit türkischen Linken. Das heißt nicht, dass sie ihr Kurdentum oder den brutalen Assimilationismus der kemalistischen Staatsdoktrin verleugnet hätten, doch war dieser ethnisierte Widerstand in ihrer Prioritätenliste nicht zuoberst. Nach der weitgehenden Zerschlagung der radikalen Linken unter der Militärdiktatur nach 1980 hat sich diese in Ostanatolien mit leninistischer wie befreiungsnationalistischer Programmatik neu konstituiert. Das war die Stunde der PKK, die von vielen türkischen Linken abgelehnt wurde, in der aber auch viele ethnische Türken ihren Platz fanden.

Der Fluss Munzur in Dersim. Foto: R. Schuberth
Der Fluss Munzur in Dersim. Foto: R. Schuberth

 

Der klassische Brüderzwist, der Konflikt zwischen Ahmet und seinem fast als Schelmenfigur angelegten Bruder hat zunächst komische Effekte, wird aber in der zweiten Hälfte auch ein Element, in dem Paranoia, Spionage, Geheimdienste und Undurchsichtigkeit, ja Unmöglichkeit der Aufarbeitung politischer Verbrechen in einem System, das selbst Kontinuität mit den verbrecherischen Systemen aufweist, die es aufzuarbeiten vorgibt. Welche Rolle hat dieser Bruder für dich im Schreibprozess gehabt?

 

Das ist eine sehr interessante Frage. Denn ich habe die Figur des Kerim, des Bruders, nie als These oder Antithese zu Ahmet konzipiert. Das ist ganz organisch und von selber passiert, und sie ist wohl die plastischste Figur im ganzen Buch, auch die biegsamste. Sie hat sich sozusagen selbst geschrieben, und ich war dabei ein Medium, das nicht nach seiner Meinung gefragt wurde. Kerim ist ein Lump, ein Opportunist, ein Großsprecher und Zyniker, und seinem Bruder in Hassliebe, in Neid und Bewunderung ergeben. Wie in Jugendtagen muss er sich ständig mit dem älteren Bruder messen. Ahmet ist sein sich verselbstständigt habendes Über-Ich, das wegen seiner Abwesenheit übergroße Dimensionen annahm. Kerims Charakterentwicklung hat sich im Guten wie im Bösen am Bild des Bruders abgearbeitet, während er diesem im Wiener Exil eigentlich egal war. Das macht den windigen Kerim eigentlich menschlicher als den aufrechten Ahmet. Und ohne es zu wollen hat sich in dieses Brüderpaar ein Grundkonflikt eingeschrieben, der in vielen meiner Werke immer wieder sich zum Thema macht und – wenn ich es mir recht überlege – einer meiner eigenen zentralen Konflikte darstellt: den zwischen ländlicher Archaik mit einem unkorrumpierbaren Ehrbegriff und einer urbanen Moderne mit seinen biegsamen Identitäten, kurzum: der zwischen Aufrechtem und Hochstapler. Einen ersten machtvollen Auftritt hat diese Dialektik in Denis Diderots philosophischem Dialog „Rameaus Neffe“, den ich über alles liebe. Ein prinzipientreuer Aufklärer trifft im Café den sympathischen Schurken und Zyniker Rameau, dessen Schlauheit und Instrumentalismus möglicherweise ein tauglicheres Instrument der Erkenntnis der bürgerlichen Welt ist als die unbewegliche Prinzipientreue des Aufklärers. Mit dieser Piece hat sich Diderot genüsslich selbst in Frage gestellt und die Frage an die Welt weitergegeben. Ihre Antwort bleibt wie im „Bus nach Bingöl“ offen.

 

Eigentlich funktioniert Kerim als Figur darum auch nicht ohne Ahmet. Und Ahmet nicht ohne Kerim?

 

Ja, sie sind, obwohl bittere Gegensätze, auch als Prinzipien Kinder einer Mutter. Und jeder von beiden verkörpert moralische Widersprüche. Ahmet flüchtet sich in der Verwirrung seiner Lebensbilanz in den megalomanen Stolz seiner Treue zu sich selbst und einer hartnäckigen Verweigerung jeglichen instrumentellen Denkens, das er an allen Beziehungen des modernen bürgerlichen Lebens als Defekt verabscheut. Ich zeichne diese radikale Verweigerung durchaus als schöne, nachahmenswerte Haltung, mit der Ahmet seine Widerständigkeit auch mit den Werten des Alevismus abgleicht. Doch diese heroische Haltung zeitigt auch eine bombastische Selbstgerechtigkeit, sowie Selbstmitleid und eine – wenngleich subversive – Selbstabkapselung. Dem gegenüber der etwas hinterhältige, charakterlich brüchige, als Bürgermeister autokratische Bruder, der aus bloßem Widerspruchsgeist Ahmets Wunschprojektionen Stück für Stück auseinandernimmt und auf diesem Minenfeld namens Dersim zwischen den blutigen Fronten von türkischer Staatsmacht und bewaffnetem kurdischen Widerstand überleben und sein Dorf sicher vorbeimanövrieren musste. Ahmet ist sich selbst treu geblieben, aber Kerim hat Straßen und Wasserleitungen gebaut. Ich bin dankbar, dass mir Kerim (ursprünglich eine Randfigur), eingefallen ist und er ein solch zwiespältiges Eigenleben entwickeln durfte.

 

 

Der Autor vor dem Munzur. Foto: M. Akbal
Der Autor vor dem Munzur. Foto: M. Akbal

 

Einen Showdown stellt das unerwartete Einbrechen der PKK in die zumal fragile Idylle von Ahmets Heimaturlaub dar. Hier manifestiert sich ja genau das, was du soeben beschrieben hast und tut sich ein weiterer Widerspruch auf. Einerseits lehnt Ahmet den kurdischen Befreiungsnationalismus ab. Andererseits heroisiert er den Kampf der Partisanen, welche die Komfortzone verlassen haben, in der er sich gefangen fühlt. Ahmet würde aber nie den Pragmatismus seines Bruders heroisieren, obwohl der doch auch einiges bewirkt. Anhand Ahmets Begegnung mit einer Gruppe versprengter Freischärler geraten einige seiner Gewissheiten ins Wanken. Kannst du das ein bisschen ausführen.

 

Hier habe ich dann doch der Versuchung nicht widerstanden, aktuellste Zeitgeschichte einzuflechten. Ahmet steht der PKK mit wohlwollender Ablehnung gegenüber, möglicherweise auch aus Neid, weil dieser ländliche national gefärbte Widerstand den urbanen, internationalistischen seiner Jugend überschrieben hat. Doch hat das durchaus weltanschauliche Gründe. Ein junger intellektueller Kämpfer klärt ihn auf über die Veränderungen der PKK-Ideologie. Nämlich dass diese, bei allen berechtigten Kritikpunkten, die wohl erste nationale Widerstandsbewegung des Trikonts ist, die glaubhaft ihre ethnonationalistische Agenda überwunden und geächtet hat. Und einen weiteren schmerzhaften Lernprozess muss Ahmet über sich ergehen lassen. Er hat automatisch den Kontakt der Männer dieser Partisaneneinheit gesucht, doch geführt werden sie von einer Frau, die ihm seine Zurückgebliebenheit auch neckisch an den Kopf werfen wird.

 

Die Wachau schickt ihren besten Mann. Der Autor als Gastarbeiter in einem Weingarten in Kurdistan. Foto: M. Akbal
Die Wachau schickt ihren besten Mann. Der Autor als Gastarbeiter in einem Weingarten in Kurdistan. Foto: M. Akbal

Der Roman überrascht mit einem letzten Bruch, der aber sehr drastisch ausfällt und zugleich viele Fäden zusammenführt. Ich lese das auch als Absolvierung deiner Aufgabe, ein Stück narrative Prosa zu schaffen, und zum Schluss die Diskussion darüber zu eröffnen. Du behandelst Themen, die auch deine Autorenposition berühren, nämlich als zentraleuropäischer Schriftsteller ein Buch über Kurdistan zu schreiben.

 

Die Passagen am Schluss des Buchs sind die ältesten, d. h. die habe ich als Erstes geschrieben. Und sie berühren das alte Problem, dass eine Prosa, die sich auf eine didaktische Grundaussage reduzieren ließe, ihren Zweck verfehlt. Man kann schon ein Hauptmotiv identifizieren, aber das Schöne an Prosa ist ja, dass sie auch viele Nebenstränge einflechten und deren Verflechtungen mit einem Hauptmotiv mitliefern kann. Ohne, wie schon oben erwähnt, sich in Willkür und Enigmatik zu verlieren.

Letzte Frage. Ich möchte noch einmal auf deine Figuren zurückkommen. Panorama wäre der falsche Begriff um dieses miteinander interagierende Figurenpersonal zu analysieren, eine Arena ist es vielmehr, die hier gezeichnet wird – es gibt keine überblickende, autoritäre Blickrichtung, sondern ein Kreisen von Ideen, einen Sprech-Wettkampf. Erzählungen und Gegenerzählungen nutzen die ihnen gebotene Plattform, und verlieren sich nicht in Selbstbezüglichkeit, sondern suchen den Bezug zu anderen – und sei es auch als ständige dialektische Negation der von anderen erzählten Geschichten. Alles an diesem Buch, so sehe ich das, schreit Antikonformismus, gerade dort, wo es Konformismus und Provinzialität inszeniert.

Hauptadern des Nonkonformismus sind das Aufdecken und Verweigern von Ideologie, zum Beispiel der vorherrschenden liberalen und neoliberalen Erzählungen, doch Aufklärung muss weiter gehen, ins Kapillargeflecht, nämlich die Simplifizierungen, Motivverflechtungen und Selbsttäuschungen der sich als nonkonformistisch wähnenden Gegenerzählungen aufdecken. Das einzig wäre wirklicher Fortschritt, und das Projekt der Aufklärung in Bereiche getragen, wo sich auch Gesellschaftskritik zu positiven, essenzialisierten Systemen verkrustet. In der neueren Linken sehe ich wieder die Tendenz zur Erbauungsliteratur, zur Schaffung positiver Helden, die Modelle richtigen Handelns vorleben. Das gefällt mir nur in der Jugendliteratur („Pipi Langstrumpf“) oder mit ironischer Brechung. Nonkonformismus heißt auch, denselben nicht zur mit Postern der richtigen Gesinnung ausgepflasterten Identitätsstube verkommen zu lassen, oder anderes Bild: diese Schwimmreifen konsequent anzustechen. Die nächste Revolution sollte nicht nur Herrschaft abschaffen, sondern Subjekte schaffen, die schwimmen können.

 

(Dez/Jän. 2020/21)