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Ein Gespräch mit Tihomir Brajović

... über die zeitgenössische serbische Literatur

von Elena Messner

Zunächst finde ich heraus, dass man in Belgrad auf der philologischen Fakultät serbische Sprache und Literatur (räumlich) getrennt hat, da ich Tihomir Brajović im falschen Gebäude suche, nämlich in jenem, das die „Serbistik“ beherbergt, in diesem Fall nur die Sprachwissenschaft, weshalb ich ins Nebengebäude geschickt werde, in dem der Lehrstuhl/die Abteilung für serbische (und jugoslawische) Literatur untergebracht ist. Im Arbeitszimmer von Brajović angekommen, beginnen wir unser Gespräch über die serbische Literatur der letzten 20 Jahre.

 

Brajović ist als Wissenschaftler spezialisiert auf jugoslawische Literatur, v.a. die kroatische, teils auch die slowenische, serbische Literatur unterrichtet er als außerordentlicher Professor an der Abteilung aktuell nicht. Als Literaturkritiker ist er aber zudem Experte für die zeitgenössische serbische Literatur, er schreibt für die Zeitung NIN, ist Jurymitglied des größten serbischen Literaturpreises, den diese Zeitung vergibt, und Redaktionsmitglied der „Sarajevoer Hefte“/„Sarajevske sveske“. 

 

So frage ich ihn sogleich nach der (Zusammen-)Arbeit mit dem wohl größten gesamtjugoslawischen Publikationsprojekt zu Literatur, Kultur und Theorie, das regelmäßig in Sarajevo erscheint. Er erzählt, er sei von der Sarajevoer Redaktion eingeladen worden, sich an der Arbeit zu beteiligen, denn der serbische Teil der Redaktion habe sich damals vor Allem aus Schriftstellern zusammengesetzt, und so fehlte ein Mitarbeiter aus Serbien, der auch den theoretischen bzw. literaturkritischen Teil beisteuern konnte, sowie Kontakte mit AutorInnen und vor Allem mit LiteraturkritikerInnen aus Serbien hatte. Diese „Hefte“ seien auch der nicht institutionalisierte Weg, mit Kollegen aus anderen ehemaligen Republiken Jugoslawiens in Kontakt zu treten. Die Zusammenarbeit mit den serbistisch/jugoslawistisch ausgerichteten Abteilungen in Sarajevo und Zagreb etwa basiere nämlich nicht auf offiziellen institutionalisierten Kontakten, sondern auf persönlichen.

 

Ich lege ihm eine Liste von kroatischen, serbischen und bosnischen AutorInnen und ihren Texten in deutscher Übersetzung vor und wage die Frage, ob er Vermutungen anstellen könnte, weshalb gerade diese ihren Weg auf den deutschsprachigen Markt gefunden hätten. Er könne nur eine spontane und oberflächliche Antwort geben, meint er, aber auf den ersten Blick, wenn er die Namen überfliege, sehe er bereits, dass es sich um in Serbien, Kroatien oder Bosnien bereits bekannte und literarisch großteils anspruchsvolle AutorInnen handele, D. Albahari, D. Velikić, B. Cosić, M. Jergović, I. Ivanji, natürlich, D. Ugresić und S. Drakulić, er sehe, sowohl ältere als auch jüngere AutorInnen seien vertreten. Anhand der Titel könne er wohl auch festhalten, dass es sich dabei um solche handele, die das österreichische und deutsche Publikum interessieren könnten, da sie zu einem Teil den zweiten Weltkrieg reflektieren, sozusagen die „gemeinsame“ Geschichte mit Deutschland und Österreich, und andererseits, die jüngsten Kriege, die auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien stattgefunden haben.

 

Er nehme also an, dass wohl am häufigsten jene Autoren ausgewählt worden seien, die auf die eine oder andere Weise aktuell seien. Manche der AutorInnen weisen außerdem eine Kommunikationsabsicht in zwei Richtungen auf – so etwa Ivan Ivanji, der auch Übersetzer aus dem Deutschen sei, manche seien selbst z.B. in Österreich und Deutschland. gewesen, wie Dragan Velikić, manche seien international relativ bekannt, wie Milorad Pavlović, oder auch Stevan Tontić, der ebenfalls in Deutschland lebte und bereits früher ins Deutsche übersetzt worden war. Es gebe aber offensichtlich auch sehr junge, aktuelle Autoren, wie etwa Biljana Srbljanović, welche in Serbien manchmal als polemische AutorInnen betrachtet werden, zwar auch hier geschätzt werden, aber international angesehener als in Serbien seien.

 

So stellen wir gemeinsam fest, dass es – kaum überraschend, wie auch aus anderen Fällen bekannt – vorrangig aktuelle und politisch interessante Autorinnen sind, die in die Hände deutschsprachiger LeserInnen geraten sind. Das sei ein typischer Prozess, betont er. So kommen wir zur Frage der serbischen Kriegsprosa.

 

Wir sprechen über V. Despotov und V. Žuric, dann erwähnt er Sasa Ilić, der in seinem Roman „Berlinsko okno“ (Fabrika knjiga, Beograd, 2005)  Verbrechen der Nationalsozialisten thematisierte, und dies dabei parallelschaltete mit Verbrechen im Bosnienkrieg, womit ihm ein kleiner Skandal gelungen sei. Wir kommen auf die Funktion oder den Sinn von Kriegsprosa zu sprechen und er holt etwas weiter aus. Es sei offensichtlich, dass auch in Deutschland und Österreich weiterhin über den Zweiten Weltkrieg geschrieben werde, nicht weil das Thema nicht bereits oftmals und mitunter sehr anspruchsvoll abgehandelt worden sei, sondern weil es nach wie vor darum gehe, individuelle und kollektive Erinnerungen festzuhalten. Literatur könne ein anderes Verständnis für Geschehnisse, v.a. komplexer und traumatischer Art liefern, sie könne keinesfalls Probleme lösen, etwa Verbrechen sühnen oder durch die Kriege entstandene Ungerechtigkeiten wiedergutmachen. Sie könne aber begreifbar(er) machen, wie v.a. Einzelne in diesem Geschehen involviert waren und gefühlt haben, sie könne Erinnerung und Gefühltes abbilden und erzeugen. In diesem Sinne sei es wesentlich, dass, wie es auch passierte und weiterhin passiert, unterschiedliche literarische Erzählungen über den Krieg kursieren, darin sind wir uns einig, und da Rezeption ein selektiver Prozess sei, sei es umso wichtiger pluralistische, ästhetisch anspruchsvolle und politisch engagierte, sowie eben – viele – Sichtweisen auch im deutschsprachigen Raum lesbar zu machen – sprich, zu übersetzen.

 

Als ich ihn frage, was sein Vorschlag für wichtige Neuübersetzungen wären, meint er nach kurzer Überprüfung meiner Liste, es falle ihm auf, dass sehr wenige Frauen vertreten seien. Es gäbe in Serbien aber genug, die sich auf inhaltlich und formal interessante Weise auch in den politischen Diskurs eingeschaltet hätten, sie hätten andere literarische Wege entwickelt, sich in diesen scheinbar vorrangig „männlichen“ Diskurs einzuklinken, er weist v.a. auf den Kreis um „Pro Femina“ hin, nennt die Autorin Svetlana Slapšak.

 

Noch immer hält Brajović als auffälligstes Phänomen in der zeitgenössischen serbischen Prosa die Dominanz des Romans am Markt fest, der selbst wiederum – ebenfalls nach wie vor – von der Thematik „Geschichte“ beherrscht werde. Er merke zwar, dass es langsam eine Veränderung gebe, hin zu intimeren Themen, die mehr auf Individuen und ihr Erleben und Fühlen ausgerichtet sei, aber es sei leider nach wie vor der einfachste Weg eines Buches zum Erfolg beim Publikum, wenn man Historisches in den Vordergrund rücke, was offensichtlich viele Autoren dazu veranlasse, „Geschichte“ schreiben zu wollen. Ob dies nun die nähere oder weit entfernte „Geschichte“ sei, sei eine andere Frage. Von hundert Romanen, die bei der NIN-Jury jährlich eingereicht werden, reflektiere immer noch ein gutes Drittel historische Themen.

 

Wir wenden uns einigen einzelnen AutorInnen und deren Rezeption in Serbien im Detail zu. Barbi Markovićs Romandebut sei in der so genannten serbischen Untergrundszene recht erfolgreich gewesen. Wir kommen über sie auch auf Vladimir Arsenijević zu sprechen, der ebenfalls zu einer (nicht mehr ganz) jungen alternativen Szenen gezählt werden kann. David Albahari, Brajović zählt ihn zum postmodernistischen Mainstream, habe, obwohl er in Kanada lebe, eine erfolgreiche Rezeption in Serbien hinter sich, er komme oft nach Serbien und lasse auch alle seine Werke in Serbien publizieren, er habe alle wichtigen Preise erhalten und sei allgemein bekannt. Auch bei ihm sei festzustellen, dass er in letzter Zeit historische Themen aufgegriffen habe, den zweiten Weltkrieg und die jüngsten Kriege in Jugoslawien. Ein Autor wie Despotov andererseits schreibe nicht nur über serbische historische Phänomene, sondern darüber wie Menschen im ganzen südosteuropäischen Raum das Ende des Kommunismus erlebten. Vladimir Pištalo, ein in Sarajevo geboren Autor, auf dessen Lesung anlässlich der Herausgabe ausgewählter Werke ich am Abend desselben Tages gehen werde, greife mit jedem Buch ein neues Thema auf, die Belgrader Generation der jüngsten Kriege, das Leben Alexander des Großen oder im neuesten Roman Nikola Tesla. Er gelte aktuell als einer der erfolgreichsten Autoren. Wer weiß, was als nächstes kommt, lacht Brajović.

Die aktuelle Literatur österreichischer Serben interessiere hier, in Belgrad wenige, spannen wir ein neues Themenfeld, die literarische serbische „Diaspora“, auf. Selbst renommierte und in Österreich sehr bekannte Autoren wie Milo Dor oder Ivan Ivanji erfreuten sich keiner so richtig erfolgreichen Rezeption, alles was nicht „im Zentrum“, sprich in Serbien oder gar Belgrad stattfinde, werde als marginal, als alternativ empfunden, so sei auch österreichisch-serbische Literatur nicht relevant für LeserInnen vor Ort. Obwohl also etwa Ivan Ivanjis Bücher im renommierten Verlag „Stubovi kulture“ publiziert wurden und werden, gebe es hier in Serbien keine echte Auseinandersetzung mit ihm, was auch einfach damit zu tun haben könne, meint Brajović, dass in der „Matica“  eben die Konkurrenz weitaus größer sei als in Österreich.

 

Wie es mit der Literatur bosnischer Serben stehe, frage ich nach. Es gebe keine institutionelle bzw. staatlich geförderte Zusammenarbeit mit Bosnien, weder mit der Republika Srpska noch mit der Föderation. Es bestehe keine gemeinsame Regelung der Distribution und Publikation von Büchern sowie eher spärlicher Informationsaustausch oder sporadische Kontakte zwischen den AutorInnen, obwohl Bücher aus Bosnien sicherlich auf Interesse des Lesepublikums in Serbien stoßen würden. Ab und an bekäme die Jury des NIN-Preises Bücher von dort zugesandt, wobei dann manchmal das Problem auftrete, dass die Sprache der Autoren nicht den in der Ausschreibung des Preises angegeben Angaben entspräche. Da der NIN-Preis für Bücher vergeben werde, die im serbischen Standard verfasst seien, was, wie Brajović betont, nicht nur eine Frage des Ekavischen oder Ijekavische, sondern auch der Lexik und des Wortschatzes sei, fielen etwa Texte eines Autors wie Nenad Veličković, eines in Sarajevo lebenden und schreibenden Autors, leider nicht in die engere Auswahl. Sprachpolitik ist in der Region dissertationenfüllendes Thema.

Das Gespräch fand am 29.04.2010 in Belgrad statt.