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Eine Wüste namens Wojwodina, eine Komödie namens Leben

Srđan Tešin (geb. 1971) gehört zur jüngeren Generation von AutorInnen aus Serbien. Bislang publizierte er ein Drama, einen Gedichtband, zwei Sammelbände mit Kurzgeschichten, vier Romane und einen Band mit seinen Kolumnen. Der im März 2012 im Drava Verlag erscheinende Reiseroman "Durch Staub und Wüste" ist sein persönlichstes Buch. Er spricht heute, fast sechs Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, mit einiger Distanz über den Roman. Außerdem sprechen wir über seine späteren Bücher – den provokanten und engagierten Roman "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten" und die Kurzgeschichtensammlung "Unterm Strich", über seine Rezeption in Serbien, über Vulgarität und Beschreibung von Verbrechen in seiner Prosa und seine aktuellen literarischen Projekte. Das Gespräch führte Elena Messner, es erschien hier auch auf Serbisch.

Beginnen wir doch bei den Anfängen...

 

Ich begann früh zu schreiben. Mein erstes Gedicht veröffentlichte ich in den 1990ern. Und danach gab es natürlich keine Rückkehr mehr. Ich war "ein vielversprechender Schriftsteller" geworden. Um mein imaginäres Publikum nicht zu enttäuschen, ging ich so weit, dass ich die Literatur als strenge Wissenschaft betrachtete: alle meine Sätze mussten durch Literatur, Wissenschaft, Ästhetik, Geschichte, Literatur und Philosophie bestätigt werden. Deshalb sind meine Bücher, bis zum Roman "Durch die Wüste und Staub", Konzepte und Konstrukte, vor allem das Buch "Anthologie der besten Titel", das in 49 Sätzen geschrieben ist. Aber schon bald überwanden ethische Grundsätze meine poetischen Prinzipien, und ich ging dazu über, vom Krieg, der sich vor meinen Augen abspielte, und an dem ich leider als Soldat teilnehmen hatte müssen, zu schreiben. Die moralistisch konstruierten Geschichten über einen Diktator, General George Zecowski, vor allem die in dem Kurzgeschichtenband "Großartiger Titel für Pantomime" und im Roman "Kazimir und andere Titel", wichen Geschichten über den Krieg, den ich am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte; Geschichten über den imaginären Ort M. wichen jenen über Städte, in denen ich wohnte und deren Rhythmus, Leben und Untergang ich fühlte; Geschichten darüber, dass es wegen der Existenz des Bösen in der Welt unmöglich ist, einen Roman zu schreiben, wichen Geschichten über die Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen und jenem Bösen, das von Menschen mit Vor- und Nachnamen verübt wird. Die moralische Vorstellung, dass meine Leser mir nur glauben würden, wenn ich mich völlig nackt auszog, resultierte in den Romanen "Durch Wüste und Staub" und "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten." Aber heute glaube ich immer weniger an das Wort, den Satz und die Geschichte, und kehre wieder zurück unter das Dach der universellen Kategorien: ens, unum, verum und bonum. Ich beginne wieder von vorne.

Der erwähnte Roman "Durch Staub und Wüste" erscheint 2011 auf Deutsch. Durch welchen Staub und welche Wüste werden die Leser und Leserinnen hier geführt?  

 

Geographisch gesehen ist es der Ort, in dem ich lebe – Kikinda, eine kleine Stadt im Norden der Wojwodina – eine Halbwüste mit einem hohen Anteil von Staubpartikeln in der Luft. Historisch gesehen ist es eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse der Geschichte, aus der ich den abgelagertem Staub entferne, mich dabei an die für mich wichtigsten Momente aus unserer jüngsten, tragischen Geschichte Jugoslawiens erinnere, die Leser und Leserinnen wie Durstige durch die Wüste führe.

 

Gleichzeitig ist es auch eine Reise durch meine Biographie, die mir beizeiten wie eine Wüste erscheint, ganz uninteressant, bis auf einige Entdeckungen wunderschöner Oasen in der Wüste des Lebens, das wertlos wie Staub ist. Ich musste mich wie in biblischen Erzählungen allein in die Wüste begeben, um den Staub von meinen Erinnerungen zu wischen, und um mich zu fragen, ob ich mit meinem Tun und Lassen dem Bösen verholfen hatte, zu gedeihen.


Hat sich heute die Perspektive auf das Geschriebene geändert?

 

Wie das wahrscheinlich auch bei anderen Autoren ist, passiert es immer mal wieder, dass Leserschaft und Fachwelt über ein Werk sagen: "Dies ist dein bestes Buch." Das letzte Kapitel des Romans "Durch Wüste und Staub" haben manche Literaturkritiker als das beste bewertet, das ich je geschrieben habe. In der Tat wird es mich eine Menge Kraft kosten, wieder die Bereitschaft und Aufrichtigkeit aufzubringen, solche, ja nennen wir es so – Geständnisse abzulegen. Unter meinen Büchern nimmt dieser Roman aus vielen Gründen einen besonderen Platz ein, aber am wichtigsten ist, dass ich darin zum ersten Mal über Menschen und Ereignisse spreche, die nicht aus der Literatur kommen. Es ist ein literarisches Thema, mit dem nur ich – und niemand sonst – umgehen konnte, weil es ein Geständnis ist, keine fiktive Biographie. Es wird wohl lange dauern bis ich die Aufrichtigkeit des Romans "Durch Wüste und Staub" wiederholen werde. Es ist auch möglich, dass das nie wieder passieren wird.

 

Wir haben den Eindruck, dass der Held, der durch das zerfallende Jugoslawien reist, immer nur Trümmer und traurige Erinnerungen hinter sich lässt, aber auch immer nur Ruinen vorfindet (in Istrien, auf Vis, in Tunesien), während es gleichzeitig viele Stellen im Roman gibt, an denen wir das Lachen nicht unterdrücken können. Wie geht das zusammen: Lachen, Trauer und Entsetzen?

 

Die Kapitel über Tunesien, vor allem Karthago, unterstreichen auf symbolische Weise meine Idee und den Wunsch, als Archäologe tätig zu sein, in Erinnerungen zu graben. Was all meine Erinnerungen verbindet, sind die Ruinen: vom Staat, der zu Ruinen wurde, über die Ruinen unseres Lebens, das unter der Last der Realität zusammenbricht, und auf den alten Fundamenten wieder neu errichtet wurde. Aber das Leben ist nie nur eine tragische Verkettung von Umständen. Das ist nur in der Literatur, als papierne Konstruktion möglich. Die Leben, die wir Menschen aus Fleisch und Blut leben, sind nicht wie die der Buchhelden. Sie sind mehr als das. Ich habe keine Anekdoten und Humoresken geschrieben, ich habe mir nur Atem raubende Szenen aus der Komödie namens Leben notiert.

 

Bewegungsfreiheit und Schreibabenteuer
Bewegungsfreiheit und Schreibabenteuer

Woher der Untertitel "Abenteuerroman“ (avanturistički roman)?

 

Hier geht es um ein, vielleicht unübersetzbares, Wortspiel von Abenteuer (avanturistički) und Tourismus (turistički). Einerseits ist die Reise durch Biographie, Geographie und Geschichte ein Abenteuer, andererseits bin ich zwar als Schriftsteller, aber immer auch als Tourist unterwegs in Tunesien, Österreich, Kroatien, Ungarn und Bosnien und Herzegowina, und was nicht alles in meinem Reisebericht vorkommt. Ein Abenteuer war auch die Tatsache, dass ich mich auf einen Schreibprozess einließ, der die Ent- und Aufdeckung tiefster Geheimnisse bedeutete, ob es sich nun um Erinnerungen an den Krieg oder Erfahrungen aus der Studienzeit handelte, derer ich mich schämte, oder die intimsten Gefühle von Liebe gegenüber Frauen, bzw. gegenüber der Frau, die ich liebe und der ich den Roman gewidmet habe. Der Tourismus liegt auch darin begründet, dass ich einerseits die Bewegungsfreiheit feiern wollte, derer ich in meiner Jugend oft beraubt worden war, wegen der Kriege, der Sanktionen, des undemokratischen Regimes oder auch aus Geldmangel, andererseits heißt das Touristendasein aber auch, einen Ort zu haben, von dem du weggehst, und an den du zurückkommst, also einen Platz, einen einzigartigen spiritus loci zu finden.

 

Wir scheinen hier einen Schriftsteller zu haben, der seine Titel sorgfältig ausgewählt und sich damit natürlich gut amüsiert. Was verbirgt sich hinter dem Titel des Romans "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten“, was erfahren wir in den grotesken Geschichten über eine Familie aus einer kleinen Stadt im Banat?

 

Ich habe schon lange die Maxime des berühmten englischen Philosophen Roger Bacon angenommen, die lautet, dass der Titel zwei Funktionen hat: sich selbst zu erklären und das, was danach kommt. Seit meinem ersten veröffentlichten Buch, "Paniertes Hirn", spiele ich mit Titeln, variiere und wiederhole sie. Oft tauchen in meinen Büchern die Titel der Bücher auf, die ich geschrieben habe, oder zu schreiben beabsichtige. In "Kazimir und andere Titel" versucht mein Held, ein Nudelhersteller, den Roman "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten“ zu schreiben, den ich Jahre später veröffentlichte. Einen Zyklus von Gedichten unter dem gleichen Titel, veröffentlichte ich noch vor dem Roman in der Zeitschrift ProFemina. Der Roman, wie auch die wenigen Gedichte, die ich geschrieben habe, und nie wieder schreiben werde, erzählen von den gleichen Dingen, nur auf unterschiedliche Weise.

Ehrlich gesagt, ich habe mich nur sehr schwer dazu entschlossen, eine Geschichte über die Schrecken zu schreiben, die das Auseinanderbrechen einer Familie während eines ganzen Jahrhunderts verfolgen, parallel zum Zerfall der Staaten, in denen die Familie lebte, obwohl sie sich nicht vom Ort bewegte. Und doch fiel mir das Schreiben sehr leicht, in weniger als einem Monat war ich fertig, ich  hatte ja die Schrecken des Textes am eigenen Leib erlebt, und, um mich ganz dichterisch auszudrücken, in der Seele. "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten“ erzählt ohne Kompromiss und Vergebung von einem Zwillingspaar, das ganz nach dem manichäischen Dualismus konzipiert ist: gut-böse, männlich-weiblich, Krieg-Frieden, Liebe-Hass, Lüge-Wahrheit. Dabei ist es für mich fraglich, wie wir als gewöhnliche Sterbliche, die Erfahrung dieser universellen Kategorien erleben. Zum Beispiel ist der Sieg der antifaschistischen Kräfte im Zweiten Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt der universalen Menschenrechte gut, aber die Verbrechen an den besiegten Faschisten sind etwas Böses, das mit nichts gerechtfertigt werden kann. Oder, sagen wir, die Liebe ist für eine Protagonistin eine fundamentale Idee, während die zweite daran zugrunde geht. Was ist dann Liebe? Wieder zeigt sich, dass der Dualismus nicht die richtige Antwort auf die Frage nach der Existenz des Bösen in der Welt ist. Was ich in diesem Roman reflektieren will: ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen nicht schlimmer, als das Böse selbst?

 

Cover von "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten"
Cover von "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten"

Im Roman geht es um den Zweiten Weltkrieg und die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen Frauen. Werden hier Themen behandelt, die in Serbien als Tabus gelten? Wie hat die serbische Öffentlichkeit das Buch aufgenommen?

 

Die beste Kritik an diesem Roman erhielt ich von einer anonymen und mir – wahrscheinlich – unbekannten Frau, die mir per E-Mail ein authentisches Bild ihrer Genitalien während der Menstruation zugeschickt hat. Man sagt nicht umsonst, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt.

Die Form dieses Romans machen nicht-lineare, fragmentarische, sich wie in manchen Musik-Videos schnell ändernde Bilder aus. In diesem Sinne ist er eine Fortsetzung und Ausweitung meiner mit dem Roman "Anthologie der besten Titel" begonnenen Poetik, der im eigentlichen Sinne des Wortes ein Roman in Fragmenten ist, und dem ich, wie im Roman "Die Flüche des Kochs und andere Abscheulichkeiten“ einen Index der Namen der Helden des Roman beifügte. In allem anderen, auch in seiner Sprache, ist dieser Roman anders als alle meine vorherigen Bücher. Morbidität, Groteske, Perversion, Gewalt sind zum Höhepunkt gebracht, bis zu jenem Punkt, an dem der durchschnittlichen Leserschaft schlecht wird vom Text. Aber schließlich gab mir die Geschichte, sei es die private oder politische, einen Grund, so frech und vulgär zu sein. Der Reigen der Verbrechen beginnt und endet in Mokrin, einem Dorf in der Nähe von Kikinda im Norden der Wojwodina. Und, natürlich, das Buch wurde in Mokrin nicht gut aufgenommen, zudem haben sich einige Leute in diesem völlig fiktionalen Text wiedererkannt und drohten mir mit Klagen. Aber das sind nur Anekdoten, die diesen Roman begleiten.

Worauf manche Kritiker hingewiesen haben, ist die Tatsache, dass der Roman mutig ist und den Nagel auf den Kopf trifft, weil er über Dinge spricht, von denen in der zeitgenössischen serbischen Literatur nicht genug geschrieben wird: die Verbrechen an den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Verbrechen paramilitärischen Truppen, die während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien verübt wurden. Leider lebt man in der Region, aus der ich komme, die Geschichte. Ohne mich aus Kikinda wegzubewegen, wechselte ich vier Staaten, meine verstorbene Großmutter lebte gar in neun Staaten, und verließ Mokrin dabei praktisch nie. Wegen dieses Übermaßes an Geschichte wollte ich, dass meine Hauptfigur ein Fotograf ist, der Leben und Tod um sich herum durch das Objektiv betrachtet, er kann anders als durch die Linse weder die Welt noch eine Frau lieben, ist kalt und desinteressiert. Es ist interessant, dass nicht eine einzige negative Kritik – weder in Serbien noch Slowenien, wo der Roman auch veröffentlicht wurde – geschrieben wurde, ich aber dafür zur beliebtesten Figur von pro-faschistischen und nationalistischen Internet-Foren und weit rechts stehenden Parteien wurde, deren Vertreter im serbischen Parlament mich als Verräter des Serbentums verfluchten.

 

Das zuletzt erschienene Buch, "Unterm Strich", ist eine Sammlung von Kurzgeschichten. Die irritierend unterhaltsame erste Geschichte, "Tulumbe und Tod", wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter in der 2011 erschienenen Anthologie von Angela Richter auch ins Deutsche. Sind die bizarren Ereignisse in der kleinstädtischen Zuckerbäckerei und andere Geschichten des Buches Metaphern für das heutige Nachkriegsserbien?

 

Es stellte sich heraus, dass die Geschichte "Tulumbe und Tod", geradezu exemplarisch für die bizarre Situation, von der sie erzählt, wurde. Auf der einen Seite erfinde ich Geschichten über die Verbindung der Politik mit Mafia-Tycoons und Ganoven, über Friedensstifter und Terroristen, und dann überholt mich andererseits die Realität, in der die lokale Mafia Fußball-Hooligans dafür bezahlt, dass sie Grenzübergänge unter Feuer setzen, die Hauptstadt zerschlagen und Bürger prügeln, oder in der bewährte und geistigreiche Pazifisten angegriffen werden, wie etwa der Direktor der Serbischen Nationalbibliothek Sreten Ugričić, der als Terrorist bezeichnet und von seinem Arbeitsplatz verbannt wurde. Ist das nicht bizarr genug?

Man kritisierte mich für die viele Gewalt in meinen Geschichten. Und doch, wir ertragen Gewalt in verschiedenen Formen, jeden Tag: von der Gewalt skrupelloser Autofahrer zur Gewalt politischer Hinrichtungen, von der Gewalt der Mittelmäßigkeit bis zur Gewalt in den Medien, die Gewalt gegen Behinderte, Alte, Kranke, Frauen und Kinder, die Gewalt der alten Mächtigen, die tausend Jahre leben möchten, auch wenn alle Jugend dieses Landes ausgestorben ist. Das Buch "Unterm Strich" erzählt von Verlierern, von denjenigen, die gebrochen und besiegt werden, aber auch von denjenigen, die ihre Niederlage feiern und stolz darauf sind. Von beiden gibt es genug.

 

Das neueste, aktuellste Projekt wird ein Roman, Kurzprosa...? 

 

Ich schreibe derzeit an einem Kurzgeschichtenband mit dem Titel "Geschichten vom Mars" und dem Untertitel Flash Fiction. Es ist eine Sammlung von Mikrogeschichten, in denen ich auf sehr wenig Raum versuche, die große Geschichte jener zu erzählen, die unschuldiger Weise auf dem "Mars" leben müssen. Einige habe ich bereits anderswo veröffentlicht, z.B. im  Sammelband, den ich mit David Albahari herausgebe oder in Zeitschriften. Ich schreibe nicht unter Druck, habe es nicht eilig und glaube nicht, dass die Literaturgeschichte darunter leiden wird, wenn ich dieses oder ein anderes Buch nicht schreibe. Ich will schreiben, um zu genießen, ich will wieder an die Bedeutung von Geschichten glauben, und wenn auch nur so weit, wie ich an die Macht der Erzählung glaubte, während ich "Durch die Wüste und Staub" schrieb.

 

 

Das Interview wurde von Elena Messner im Jänner 2012 geführt. Durch Staub und Wüste. Ein Abenteuerroman erscheint im März 2012 im Drava Verlag (Klagenfurt/Celovec).