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Stadtleben. Zur Funktion des Raumes in Miljenko Jergović' Sarajevo Marlboro

Von Simon Leitner

„Raum ist ein Schwärmen in den Augen, Zeit

Ein Summen in den Ohren. Dieser Bienenstock

Hält mich gefangen“

 

Vladimir Nabokov, Fahles Feuer

 

Miljenko Jergović' (nennen wir es trotz der wirtschafts- und markttechnisch bedingten Abneigung einschlägiger Verlage gegenüber diesem Ausdruck) Erzählband Sarajevski Marlboro erschien 1994, zu einer Zeit also, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die Belagerung der Stadt Sarajevo noch im vollen Gange waren. Und kaum verwunderlich ist es, dass, wie bei vielen Autoren dieser Zeit und 'Herkunft', auch bei Jergović der Krieg in all diesen seinen Erzählungen, in welcher Art und Weise auch immer, präsent ist. In ihrem Nachwort zu Sarajevo Marlboro schreibt Daniela Strigl, den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf treffend:

 

Der Krieg ist auch hier Vater aller Dinge, aber er bleibt im Hintergrund, wie ein Regisseur, der weiß, dass er seine Macht nicht ständig beweisen muss, dass seine bloße Präsenz genügt, um die Mitspielenden nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. (Jergović, 2009: 189)

 

Diese Aussage kann man jedoch ebenso in Bezug auf die Rolle der Stadt Sarajevo anwenden, denn auch wenn nicht in jeder Geschichte auf den sie umgebenden Raum eingegangen wird oder Namen von Straßen, Vierteln oder Stadtteilen von Sarajevo explizit ihre Erwähnung finden, so ist dem Leser – nicht nur wegen dem freilich schon darauf hindeutenden Titel des Buches – doch stets ersichtlich, wo diese Geschichten sich zutragen: in Sarajevo, einer Stadt, „die heller strahlen und finsterer sein sollte als alles, was er zuvor gesehen hatte.“ (Jergović, 2009: 66) Weniger offensichtlich ist jedoch, wie Sarajevo bzw. die sich in der Stadt befindenden Gebäude, Straßen und Plätze sich auf die Geschichten der Protagonisten und ihre Handlungen auswirken. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, zu zeigen, wie der seine Figuren umgebende Raum, samt seiner geo-, topographischen und sonstigen Besonderheiten auf diese einwirkt und ihre (Un-)Taten und Handlungen ebenso beeinflussen – oder sogar steuern – kann wie ihre Psyche. Da wir es bei Sarajevo Marlboro mit einem aus 29 (neunundzwanzig!) Kurz- und Kürzestgeschichten bestehenden Werk zu tun haben, was zwar nicht unbedingt die Analyse, aber aufgrund der großen Zahl an verschiedenen Protagonisten und Plots zumindest eine übersichtliche Darstellung erheblich erschweren kann, erscheint es sinnvoll, nicht alle, sondern nur einige symptomatische Erzählungen zu behandeln und dabei ganz nah an den Texten selbst zu bleiben. Durch dieses „close-reading“ soll sichergestellt werden, dass die Ergebnisse, die vermittelt werden sollen, nicht in einer Masse an diversen Namen und Orten inklusive deren Geschichten untergehen. Ausgangspunkt bilden dabei die Überlegungen von Kathrin Busch zum Thema Hybride. Der Raum als Aktan [Busch, Kathrin: Hybride. Der Raum als Aktant, in: Kröncke, Meike; Mey, Kerstin; Spielmann, Yvonne (Hg): Kultureller Umbau. Räume, Identitäten und Re/Präsentationen. Bielefeld: transcript Verlag, 2007.], die sich in ihren Ausführungen wiederum auf die von dem französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour formulierten Thesen bezieht.

Bevor wir nun auf Jergović' Geschichten eingehen, müssen wir zunächst noch die klassische und noch immer verbreitete Vorstellung eines handlungsunfähigen, ganz und gar dem Subjekt unterworfenen Objekts hinterfragen: Sind die uns umgebenden 'Dinge', scheinbar alltägliche Gegenstände und Bauten jedweder Art, tatsächlich nur zufällig sich in einem Geschehen, einem Ereignis befindende Objekte, die keinen Einfluss auf diese selbst ausüben? Oder bestimmen vielleicht doch vielmehr die Objekte unsere Handlungen, indem sie diesen gewissermaßen einen bestimmten, durch diverse Aspekte abgegrenzten Rahmen geben, sie quasi in eine bestimmte Richtung lenken? Die Wahrheit befindet sich, wie man so schön sagt, wohl 'irgendwo dazwischen', keineswegs jedoch sollte man von Subjekten als alleinigen Akteuren sprechen. Nehmen wir das schon von Latour verwendete Beispiel der Bodenwellen, die sich vor allem in Wohngegenden befinden: Diese kleinen Straßenunebenheiten beeinflussen als bauliche Vorgaben durch ihre bloße Existenz das Fahrverhalten der Autofahrer, die buchstäblich gezwungen werden, langsamer zu fahren, wenn sie eventuelle Schäden an ihrem Auto zu vermeiden beabsichtigen. Eine simple Raumgestaltung also lenkt unser Verhalten und trägt zu einem bestimmten Ereignis bei, womit ihr folglich ein gewisses Maß an Handlungspotenzial zugeschrieben werden kann – nicht umsonst sind diese Bodenwellen auch nach einer bestimmten Berufsgruppe benannt, deren Angehörigen man – zumindest im Wachzustand, manchmal, oder? – durchaus Handlungsfähigkeit zuschreibt: 'schlafende Polizisten'. Doch eigentlich müssen wir nicht einmal so weit denken: Auch ohne diese Bodenwellen, und das wird kein Autofahrer dieser Welt bestreiten wollen, wird man durch Straßen und Kurven im wahrsten Sinne des Wortes in eine Richtung gelenkt. Wir sehen also, dass Objekte und Dinge durchaus in menschliche Handlungen hineinragen und diese beeinflussen, uns dies aber so gut wie nie bewusst wird.

In Sarajevo Marlboro gibt es nun unzählige solcher Objekte, die aufgrund verschiedenster Umstände eine größere Bedeutung erlangen und sogar zum Symbol für etwas werden: der Ring der verstorbenen Großmutter; der Apfel, der zerstrittene Nachbarn endlich wieder versöhnt; oder der erschlaffte und abgestorbene Kaktus als Symbol einer ebensolchen Liebe. Es sind die kleinen, die gewöhnlichen Dinge, die auf uns Einfluss nehmen, und auch die Stadt, ihre Häuser, Bauwerke und Straßen gehören trotz ihrer relativen Größe zu diesen Kleinigkeiten, in eine Reihe mit Ring, Apfel und Kaktus. Die Rolle von Sarajevo geht weit über den Status als bloßer Schauplatz hinaus, denn sie, die Stadt, trägt in allen Erzählungen von Sarajevo Marlboro erheblich zum Geschehen bei, ist oft sogar Anstoß derselben. Gerade die besondere Lage der Stadt, die, wie Karahasan in seinem Tagebuch der Aussiedlung beschreibt, nicht nur einmal durch die sie umgebenden Berge, sondern auch ein zweites Mal durch die das Zentrum (die Čaršija) umschließenden Wohnviertel (die Mahale) regelrecht eingekesselt ist, hat den Tschetniks und ihren zu trauriger Berühmtheit gelangten Scharfschützen (Snajper) große Vorteile bei der Belagerung der Stadt eingebracht, was sich wiederum gravierend auf die Lebensweise der Sarajlijer ausgewirkt hat, die manche Straßen und Orte teilweise nur mehr – wenn überhaupt – rennend passieren konnten, was auch in den Geschichten – nicht nur denen von Jergović, sondern fast allen zu dieser Zeit in diesem Raum erschienenen – oft Erwähnung findet.

 

In der Kurzgeschichte Hanumica aber spielt zunächst nur eine alte Wohnung eine Rolle, die einem jungen (?) Mann namens Ćipo von seiner ihm unbekannten Tante angeboten wird. Der Leser erfährt nicht explizit die Gründe, warum die Tante die Wohnung verlässt, doch es liegt wohl nahe, diese mit dem Krieg und der Flucht vor den damit unmittelbar verbundenen Gefahren zu erklären. Ćipo nimmt vielleicht dasselbe, auf jeden Fall aber die Wohnung mit Freuden an, hat sie doch Gasheizung, fünf Zimmer und eine randvolle Speisekammer. Schon hier haben wir ein Beispiel der erwähnten Einflussnahme von Bauwerken auf menschliche Handlungen: Wäre die Wohnung nicht so groß, bzw. so gut ausgestattet gewesen, wer weiß, ob sie Ćipo angenommen hätte, denn Tatsache ist, dass er sich auf keinen Fall aus Rücksichtnahme auf seine Tante, geschweige denn aus Pflichtbewusstsein, die Wohnung bis zu ihrer Rückkehr zu hüten und zu beschützen, dazu entschlossen hat, einzuziehen. Erst ist sehr froh über das unverhoffte Angebot, doch dieselbe Wohnung mit ihrer großen Anzahl an Zimmern ist schließlich auch der Grund dafür, dass Ćipo sich einsam fühlt und beschließt, einen Mitbewohner zu suchen. Dass er erst nach den missglückten Versuchen mit einem Hund und einer Katze an einen Menschen als potentiellen Mitbewohner denkt, ist bezeichnend für Ćipos Charakter ... So jedenfalls kommt Mujesira in sein Leben, die ihm in der Wohnung zur Hand geht, oder präziser: die als einzige etwas Ordnung hinein bringt und das Leben dort etwas wohnlicher macht. Und auch auf Mujesira hat diese Wohnung in Korrelation mit dem darin hausenden, verschwiegenen Bewohner eine ganz spezielle Wirkung: Mujesira, die so gut wie nichts über Ćipo weiß, veranlasst die große Wohnung zu allerlei Vermutungen über dessen Herkunft und Vergangenheit, sie fragt sich sogar kurzzeitig mal, ob er vielleicht ein Spion sei, weil er sich eine so große Wohnung leisten könne. Die Wohnung selbst, die keinerlei tiefgreifende Veränderung erfährt – und wenn, dann nur geringfügige, durch Mujesira hervorgerufene –, die in keiner Weise irgendetwas „tut“, dass sich auch nur in entferntester Weise als Handlung oder Tat definieren ließe, wirkt also in dieser Geschichte auf dreierlei Art, durch den schlichten Umstand ihrer Existenz: Zuerst bringt sie Ćipo dazu, umzuziehen, dann, nach einiger Zeit, ist es – um dies noch einmal zu betonen – dieselbe, noch immer gleich gebliebene, unveränderte Wohnung, die Ćipo sich einsam fühlen lässt. Auch hier darf man wieder spekulieren, ob er sich auch in einer kleineren Behausung so verloren gefühlt hätte – womöglich nicht. Und zum dritten ist diese Wohnung für die von Mujesira angestellten Vermutungen über ihren Vermieter verantwortlich und übernimmt hier also, wegen dem Fehlen jedweder Bemühungen seitens des eigentlich für diese Aufgabe bestimmten Ćipo, an seiner statt die Rolle eines Konversationspartners für Mujesira. Sie, Mujesira, spricht hier also folglich nicht direkt mit Ćipo, gewinnt aber gewissermaßen indirekt durch die Kommunikation mit dessen Wohnung vermeintliche Informationen über und somit auch ein gewisses Bild von ihm. Die komplette Handlung dieser Erzählung ergibt sich also aus der Wohnung der Tante, bzw. deren Bezug durch Ćipo und Mujesira, unter anderen Bedingungen, wäre sie wohl ganz anders verlaufen. Nicht umsonst meint Ćipo einmal in Bezug auf Mujesira: „In seinen Vorkriegskellern wäre ein solches Wesen unvorstellbar gewesen, und jetzt, wo er sie in der Wohnung seiner Tante beherbergte, war sie wie ein Geschenk des Himmels [...]“ (Jergović, 2009: 53) Geschenk des Himmels oder Geschenk der Wohnung, auf jeden Fall war sie ein Geschenk des Raumes ...

 

Während in Hanumica also ein architektonisches Objekt verschiedene Handlungen evoziert, ohne sich selbst irgendwie zu modifizieren, hat in der Erzählung Kommunist genau diese Veränderung eines Bauwerkes schon ungeahnte, diesmal vor allem psychische Folgen: Als der örtliche Kirchturm von einer Granate getroffen wird, ist es ausgerechnet der „Dorfkommunist“ Ivo T., der am heftigsten darum trauert. Auch die Beschwichtigungen des Erzählers, der immer wieder beteuert, dass es nur ein kleines Loch und deshalb leicht wieder zu reparieren sei, können ihm nicht von seinem Leid abbringen:

 

Ich dachte, wie blöd muss man denn sein, das Loch ist doch nicht einmal einen halben Meter groß, aber das sagte ich natürlich nicht zu ihm. Der Mann war fertig, das sah ich, der wäre noch vor meinen Augen zusammengeklappt, wenn ich nicht meinen Mund gehalten hätte. Und dann sagte er: 'Dummer Rudo, wie soll man reparieren, dass ich nur Himmel sehe, wo alle meine Vorfahren den Kirchturm gesehen haben?' Da hatte auch ich einen Kloß im Hals, fiel ihm um den Hals und versteckte mein Gesicht in seinem Mantel. (Jergović, 2003: 86)

 

Als die Kirche noch, wie jedes andere Gotteshaus auch, die in einem Gebäude manifestierte Liebe und Verehrung zum jeweiligen Gott war, das die Größe und Herrlichkeit eben jenes Gottes pries und eine ganze Glaubensrichtung repräsentierte, wussten weder Ivo T., der seiner Familie in seiner Eigenschaft als Kommunist und der seiner Ideologie eigenen Vorstellung von Autorität sogar das Weihnachtsfest im eigenen Haus verbietet, noch der pragmatisch denkende Erzähler – vielleicht ein Bauarbeiter? – irgendetwas mit ihr anzufangen. Als aber der größte Teil jedweder Göttlichkeit zerbombt wurde und der Rest durch das kleine Loch im Kirchturm entschwand, erlangte die Kirche eine neue, nicht religiös konnotierte Bedeutung: Sie steht nun als profanes Sinnbild der irreparablen Schäden, die ein Krieg hinterlässt, und der ebenfalls durch den Krieg zunichte gemachten Chance auf die Wiedererlangung einer friedlichen Vergangenheit.

 

Stichwort Vergangenheit: In einigen Geschichten fungieren bestimmte Orte als „Aussichtspunkte der Zeit“ (Der Ausdruck „Aussichtspunkt der Zeit“ stammt, jedoch in einem – zwar nicht gänzlich, aber immerhin – anderen Zusammenhang, aus „Fahles Feuer“ von Vladimir Nabokov, passt aber, wie der Verfasser erachtet, sehr gut zum Thema). In der Kurzgeschichte Forelle beispielsweise ist dieser Aussichtspunkt das Dach eines Hauses: Ein zugezogener, sich auf einem Dach befindender Sarajlijer – vor den Blicken der Scharfschützen durch die Finsternis der Nacht ebenso geschützt, wie sein Heimatort vor den seinigen – versucht, im Dunkeln die Umrisse seiner Heimatstadt auszumachen:

 

Vom Dach aus sollte man, jedenfalls behaupteten das Geschichten aus längst vergangenen Tagen, die ganze Welt sehen, oder zumindest den Teil der Welt, der einen interessiert. (Jergović, 2003: 69)

 

Aus der Geschichte geht nicht eindeutig hervor, ob sich diese Konstituierung auf der Ebene der Zeit oder des Raumes (oder auf beiden?) abspielt. Geschieht dies auf zeitlicher Ebene, will der Protagonist sich seine Stadt buchstäblich ins Gedächtnis zurückrufen, und damit auch alles, was damit in Verbindung steht: seine Kindheit, die er dort verbracht hat; seine Familie, die dort noch immer lebt; oder seinen Vater, der vielleicht schon gestorben ist. Somit wäre die Erinnerung an seine Heimatstadt gleichzeitig auch eine Erinnerung an seine glücklich verbrachte Kindheit, und das Dach, auf dem er steht, folglich 'wirklich' ein „Aussichtspunkt der Zeit“, weil er von dort aus nicht seine Heimatstadt, sondern in erster Linie seine Vergangenheit überblicken will. Bezieht sich dieses 'in Erinnerung rufen' jedoch schlichtweg auf die räumliche Ebene, will der Protagonist also tatsächlich nur seinen Heimatort sehen, wäre das Dach seines Hauses ein ordinärer Aussichtspunkt, wie jeder andere auch bar jeder persönlichen Note und Erfahrung, vergleichbar mit denen, die man gewöhnlicherweise auf Wanderwegen oder möglichst hohen Sehenswürdigkeiten antrifft und vor der Benutzung erst mit Geldstücken füttern muss. Mögen Art und Weise des Erinnerns auch verschieden sein, die Gründe und Folgen sind bzw. wären jedoch die gleichen: Wie in Kommunist fungiert ein Gebäude, in diesem Fall die Heimatstadt des Protagonisten, in erster Linie als Symbol für eine verlorene, unwiederbringliche, friedliche Zeit, und das Erinnern, das Festhalten daran dient vor allem dem Zweck der Beruhigung und der Versicherung, dass es neben Krieg und Zerstörung auch noch anderes im Leben gibt. In einer anderen Geschichte, Grab, lässt die Aussage eines Totengräbers nicht den geringsten Zweifel an einem Friedhof und seinen Status als „Aussichtspunkt der Zeit“, der sowohl zeitlich, als auch räumlich wirkt:

 

[U]nd vielleicht triffst du, während du so durchs Gras streifst, einen Fremden, der sich für die Lebensgeschichte eines Toten interessiert, obwohl er ihn nicht kannte, und du kannst sie ihm erzählen und mit dem Finger zeigen, wie dessen Leben verlaufen ist, vom Laden in die Kneipe und so weiter bis zum Grab. (Jergović, 2009: 89)

 

Hier ist der, sich nach Ansicht des Totengräbers wie jede ordentliche Ruhestätte auf einem Hang über der Stadt befindende Friedhof also ein Ort, von dem aus sich, bedingt durch seine Höhe, nicht nur alle Lebensstationen eines Toten, sondern auch all seine damit untrennbar verbundenen Handlungen im wahrsten Sinne des Wortes überblicken lassen. Der Friedhof erlaubt folglich nicht nur einen Blick auf die nähere und fernere Umgebung, sondern auch einen Blick in die Vergangenheit, er kombiniert also den zeitlichen und räumlichen Aspekt des Erinnerns. Wie so etwas funktioniert wird uns sogleich von dem schon erwähnten Totengräber gezeigt, der uns Lesern die Geschichte des Toten Rasim erzählt und dabei nicht vergisst, uns mit seinem Zeige(!)finger die für sein Leben relevanten Orte und Plätze zu zeigen.

 

Apropos zeigen (um nochmals ein Stichwort als Überleitung zu verwenden): An dieser Stelle soll noch eine letzte Geschichte aus Sarajevo Marlboro erörtert werden, die hervorragend zeigt, dass die eine menschliche Handlung hervorrufenden und lenkenden baulichen Vorgaben oft auch eine Kettenreaktion zur Folge haben können, deren Tragweite sich erst in einem größeren Zusammenhang ergibt, und somit die für unser Thema wohl die mit Abstand interessanteste Erzählung ist. In Gong also nimmt der Raum eine, wenn man so will, geradezu hinterhältige Rolle ein, indem er, wie schon erwähnt, den Anstoß zu einer Kettenreaktion gibt, ohne dabei wirklich in den Vordergrund zu treten. Nicht nur in Anbetracht des verwendeten Begriffs „Anstoß“ erscheint hierfür das normalerweise zur Erklärung für Ursache und Wirkung dienende Beispiel des Billardqueues, der die weiße Kugel anspielt, welche wiederum eine andere Kugel trifft etc. angemessen. Die Geschichte beginnt jedenfalls relativ unscheinbar:

 

An der Kurve beim Gesundheitsamt bimmelten die Straßenbahnfahrer immer, entweder weil die Kurve schlecht einsehbar oder an der Stelle einmal ein Unglück passiert war oder einfach aus Aberglauben. Kaum jemand achtete darauf, die Anwohner hörten das Gebimmel so wenig wie das Schlagen einer Wanduhr; (Jergović, 2009: 55)

 

Und auch dem Leser wäre dieses Detail, wäre es nicht (so) beschrieben, wohl kaum aufgefallen. Allerdings bietet dieses Gebimmel, für das sich wiederum eine bauliche Vorgabe, sprich: die Straßenverkehrslage verantwortlich zeichnet – denn auch wenn der Aberglaube oder keiner der genannten Gründe die Straßenbahnlenker zum Gebimmel veranlasst, so tun sie dies doch nur hier, an ebenjener Kurve beim Gesundheitsamt – den Auftakt für zumindest ein weiteres, folgendes Ereignis: Die meisten in der Kneipe „Kvarner“ realisieren dieses Gebimmel ebensowenig wie die Anwohner oder der Leser, nur ein einziger Gast, Mišo, ein ehemaliger Boxer, quittiert jeden einzelnen Gong, indem er reflexartig seine Fäuste in Kampfposition bringt. Dieser an Pavlov und seinen Hund erinnernde Reflex wäre eigentlich kein Problem, hätte Mišo nicht gleich beim ersten Mal seine Führhand in das Gesicht eines anderen Gastes positioniert, der sich mit einem gezielten Schlag mit dem Aschenbecher auf den Kopf des Boxers zur Wehr setzt. Nachdem Mišo die Sache jedoch als Missverständnis ge- und seine Reaktion auf das tägliche Gebimmel erklärt hatte, gab es keine Probleme mehr. Stellen wir also fest: Die ungünstige, schlecht einsehbare Kurve bedingt das Gebimmel der Straßenbahnen, welches wiederum den armen Mišo zum Zucken seiner Hände bringt. Beschränken wir uns nun einmal auf das Ereignis selbst, also auf den Schlag von Mišo, der einen anderen Kunden der Kneipe direkt ins Gesicht trifft: Jedes Gericht wird als erstes Mišo die Schuld geben und ihm eine gehörige Geldstrafe aufbrummen wollen. Einige verständnisvolle, weitsichtige Zeugen jedoch – sowie natürlich Mišo selbst – werden die Straßenbahnen in Gestalt derer Lenker in den Brennpunkt legen, die mit ihrem unnützen Gebimmel ja schließlich an der ganzen Misere erst schuld und folglich die Hauptverantwortlichen sind. Niemand aber – mit Ausnahme einiger tollkühner Anwälte oder verrückter Straßenbahnschaffner vielleicht – wird aus naheliegenden Gründen auf die Idee kommen, der Straße bzw. schlecht einsehbaren Kurve die Schuld an einem in einer Kneipe in der Nähe stattgefundenen Zwischenfall zu geben. Die Rolle des Raumes oder der Raumgestaltung, die wie bei den eingangs erwähnten Bodenwellen eine (Ketten-)Reaktion erst hervorrufen, geht also sprichwörtlich im Gebimmel der Straßenbahnen unter, und das, obwohl diese spezielle Kreuzung beim Gesundheitsamt in Sarajevo der eigentliche Handlungsträger ist – oder zumindest sein könnte. Worauf ich hinaus will: Der einzige, und der gravierende Unterschied zwischen handelnden Objekten und Subjekten besteht also (nur noch) in der Behandlung und Wahrnehmung derselben – zum Glück, sonst müssten wohl alle Straßen von hier bis zum Ende der Welt wegen fahrlässiger (buchstäblich!) Tötung verurteilt werden.

 

Wir haben nun anhand von einigen Beispielen erörtert, wie unterschiedlich sich die Stadt Sarajevo als Raum auf die Protagonisten der Geschichten und deren Taten und Psyche auswirken kann: als Symbole für verlorene Erinnerungen (Kommunist, Forelle), als Orte die eine Vergangenheit wieder aufleben lassen können (Grab) und als – vermeintliche – Verursacher – nicht als Ursache! – bestimmter Handlungen, wie in den Erzählungen Hanumica und Gong. Doch wurden damit längst nicht alle möglichen Funktionen von Räumen aufgezeigt, auch in Sarajevo Marlboro gäbe es noch einige (zur Erinnerung: Wir haben hier nur fünf der neunundzwanzig Erzählungen behandelt) Geschichten, deren Analyse sich lohnen würde, für die der Platz hier aber nicht reicht. Es sollte aber verständlich gemacht worden sein, dass Objekte nicht immer den Subjekten unterlegen sein müssen und durchaus auch selbst Ereignisse hervorrufen können, teilweise sogar durch ihre bloße Existenz. Und welches Subjekt kann das schon von sich behaupten?

 

 

Dieser literaturwissenschaftliche Essays wurde unternommen ausgehend von folgendem Text: Jergovic, Miljenko: Sarajevo Marlboro. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2009. Aus dem Kroatischen übersetzt von Brigitte Döbert.