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Ausgehen/Remix

Rezension von Martina Wunderer

Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler. Weil Karrer am Montag mit mir gegangen ist, gehen Sie, nachdem Karrer am Montag nicht mehr mit mir geht, auch am Montag mit mir, sagt Oehler, nachdem Karrer verrückt und sofort nach Steinhof hinaufgekommen ist. (Gehen 7)


So beginnt Thomas Bernhards Text Gehen aus dem Jahre 1971. (Frankfurt a/M: Suhrkamp).


Während ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte, nur am Samstag mit Milica ausgegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus. Weil Bojana am Sonntag mit mir ausgegangen ist, gehst du jetzt, nachdem Bojana am Sonntag nicht mehr mit mir ausgeht, auch am Sonntag mit mir aus, sagt Milica, nachdem Bojana jetzt genug hat und vor der Glotze klebt. (Ausgehen 7)


So beginnt Barbi Marković Text Ausgehen aus dem Jahre 2009. (Frankfurt a/M: Suhrkamp).


Aus Gehen wird Ausgehen, aus den Straßen Wiens werden die Clubs Belgrads, aus der Zwangseinweisung in die Irrenanstalt Steinhof wird der freiwillige Rückzug vor den Fernseher. Bernhards ältere Herren verzweifeln am Leben, Markovićs junge Mädchen am Belgrader Nachtleben.

 

Gehen [rmx] Ausgehen

Scratch.

Ich beginne:


Die in Belgrad geborene und in Wien lebende Autorin Barbi Marković überführt den Prosatext Thomas Bernhards aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die Gegenwart. Sie und in einem zweiten Schritt ihre Übersetzerin Mascha Dabić folgen der Vorlage Satz für Satz, adaptieren Syntax und Sprachrhythmus, tauschen nur wenige Wörter aus.


Es ist ein ständiges zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Kopfes Denken und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Empfinden und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Charakters Hinundhergezogenwerdens. (Gehen 5)
[rmx] Es ist ein ständiges zwischen allen Musikstilen Denken, zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Sichzudröhnen und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Charakters Sichunterhalten. (Ausgehen 5)


Wie soll man einen solchen Text nennen? Plagiat? Adaption? Imitation? Nachdichtung? Marković selbst nennt es einen Remix.


Remixing ist nicht nur ein modischer Stil der elektronischen Musik oder von nutzergenerierten Inhalten auf populären Plattformen wie YouTube. Vielmehr ist es eine Meta-Methode, ein viele Genres und spezifische Arbeitsweisen kennzeichnendes Verfahren, in welchem unter Verwendung bestehender kultureller Werke oder Werkfragmente neue Werke geschaffen werden. Wesentlich bei einem Remix ist sowohl Erkennbarkeit der Quellen und wie auch der freie Umgang mit diesen. Die Erkennbarkeit der Quellen schafft einerseits ein internes Verweissystem, welches wesentlich die Bedeutung des neuen Werkes beeinflusst, und erlaubt anderseits, multiple Perspektiven miteinander zu verbinden und damit ein neues Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung zu artikulieren. Der freie Umgang mit dem Material ist Voraussetzung, um neue Werke schaffen zu können, die den gleichen Werkcharakter haben können, wie die Werke, aus denen sie bestehen. [...] Re-mix betont, dass es keinen eigentlichen Anfang gibt, sondern es sich um
einen kontinuierlichen Prozess der Bearbeitung handelt, der so weit zurück geht, wie wir in der Lage sind zu sehen. [...] Remixing ist der kulturelle Ausdruck und Teil der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Verfasstheit und dürfte damit noch für lange Zeit ein zentraler Begriff der Kultur- und Gesellschaftstheorie bleiben. [Felix Stalder: Neun Thesen zur Remix-Kultur. Link]


Markovićs Ausgehen ist der kongeniale Versuch, Bernhards Text Gehen weiter-, fort- und umzuschreiben und zugleich eine implizite Reflexion über das Hervorgehen von Texten aus Texten. In einer spiralförmigen Bewegung mise en abyme münden Textrezeption und -produktion ineinander und produzieren so einen Überschuss an Bedeutung.


>Schreiben< wäre demnach ein zur Produktion, zur Tätigkeit gewordenes >Lesen<: Schreiben-Lesen [écriture-réplique].[...] Die poetische Sprache als Dialog von Texten: jede Sequenz schafft sich selbst, in Bezug auf eine andere, die aus einem anderen Korpus stammt, so dass jede Sequenz doppelt orientiert ist: zum Akt der Erinnerung hin (Hervorrufen einer anderen Schreibweise) und zum Akt der Aufforderung hin (Transformation dieser Schreibweise). [Julia Kristeva zit. nach Katharina Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers. Tübingen: Niemeyer Verlag, 1998, S. 49.]


Bei Bernhard gehen zwei Männer - der namenlose Erzähler und Oehler gemeinsam im 20. Wiener Gemeindebezirk spazieren. Früher ging auch Karrer mit Oehler spazieren, doch dann ist der verrückt geworden. Deshalb begleitet nun an seiner statt der Erzähler Oehler auch montags und referiert dessen ausschweifenden Monolog. Oehlers Thema ist der Zusammenhang von Gehen und Denken, eine Fragestellung, die er ausgiebig mit Karrer erörterte, bevor dieser nach Steinhof eingeliefert wurde:


Mit Karrer zu gehen, ist eine ununterbrochene Folge von Denkvorgängen gewesen, sagt Oehler, die wir oft lange Zeit nebeneinander entwickelt und dann plötzlich an irgendeiner, einer Stehstelle oder einer Denkstelle, aber meistens an einer bestimmten Steh- und Denkstelle zusammengeführt haben. (Gehen 76)


Bei Marković denken die Figuren nicht mehr: Die Zeit, in welcher ich gedacht habe, ist vorbei, ich denke nicht mehr, so Bojana. (Ausgehen 96) Schließlich geht sie auch nicht mehr – Anlass und Ausdruck der Denkbewegungen Karrers – sie geht aus.


Mit Bojana auszugehen ist eine ununterbrochene Folge von depressiven Gedanken gewesen, sagt Milica, die wir auf dem Weg zum Lokal gepflegt haben, ums sie plötzlich unter Einwirkung von Alkohol oder Drogen zu verdrängen, aber meistens unter Einwirkung einer unfehlbaren Kombination von Alkohol und Dorgen. (Ausgehen 74)


Die Diskrepanz zwischen der strengen Konzeption und Form und dem Sujet, der krankhaften Langeweile und tödlichen Verzweiflung der Clubber angesichts der Stil-, Geschmacks- und Einfallslosigkeit des Belgrader Nachtlebens, ist naturgemäß herrlich komisch:

 

Wenn du nur ein einziges Mal mit deinem Sharp-Blick und deinen Sharp-Gedanken diese von berauschten Clubbern verrauchten Partys scannst, sagt Milica. So viel Hilflosigkeit und so viel Füchterlichkeit und so viel Langeweile, sagt Milica. Die Wahrheit ist nichts anderes, als was ich hier sehe: erschreckend. Dass es so viel Hilflosigkeit, Fürchterlichkeit und Langeweile überhaupt gibt, sagt Milica, unglaublich. Dass das Clubbing so viel Langeweile und Entsetzenssubstanz erzeugen kann. (Ausgehen 21)


Marković übertreibt Bernhard Übertreibungskunst noch, sie steigert sie bis ins Absurde. Doch bei allem – zum Großteil dem Original geschuldeten – Witz gelingt es ihr außerdem, das Unbehagen in einer Nachkriegsgesellschaft und den Gedankenunrat einer ganzen Generation abzubilden – Bernhards Österreich nach 1945 ist bei ihr das Belgrad von heute. 1999 wurde die Stadt von der NATO bombardiert. Die Angriffe dauerten beinahe drei Monate, danach waren deren Balkankriege zu Ende. Zehn Jahre danach paraphrasiert Ausgehen die Auswirkungen des Krieges auf die Psyche der Stadt, auf ihre Bewohner: Du brauchst nur in Belgrad auszugehen, und die ganze Erbärmlichkeit und Armseligkeit des Belgrader Lebens stürzt über dich herein.

 

Das Belgrader Nachkriegs-Nachtleben ist bei Marković ein Spiegel der Stadt als Ganzes: *Belgrader Clubbing – Belgrader Leben; Nachtexistenz – Existenz (Ausgehen 16). Was bei Bernhard die Geschichtslüge, ist bei Marković die Clublüge, was dort Menschenunglück heißt, verwandelt sich bei Marković in Clublangeweile, aus Verrücktheit wird Sättigung; der Nervenzusammenbruch Karrers im Rustenschacherschen Laden wird zur Publikumsbeschimpfung Bojanas auf einem Plastikman-Konzert, und anstatt in der geschlossenen Anstalt endet sie vor der Glotze. Dieser Gefahr will sich Milica nicht aussetzen, lieber geht sie weg aus Belgrad oder sie bringt sich um, je nachdem.


Ich habe eingesehen, dass ich in Belgrad nichts mehr zu suchen haben, sagt Milica, andererseits, dass ich vielleicht niemals von hier wegkomme und tagelang, wochenlang, monatelang in Belgrad ausgehen werde und daran denken werde, mich doch noch umzubringen, denn es ist ebenso möglich, dass ich mich am Ende doch noch umbringen werde, sagt Milica, durchaus möglich, nur nicht, bevor und keinesfalls solange ich nicht Wittgenstein kapiert habe, aber danach werde ich mich vielleicht umbringen, werde ich mich umbringen müssen, wenn ich aus Belgrad nicht wegkomme. (Ausgehen 79)


Barbi Marković ist keine Diebin und ihr Text kein Plagiat, sie ist vielmehr Bernhards produktive Leserin, seine Korrespondentin, sein Gegenüber. „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert, ist auch ein Satz von Karrer, der mir in diesem Zusammenhang einfällt und den Oehler sehr oft, wenn es ihm passt, gebraucht.“


Rezension von: Barbi Marković: Ausgehen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. Übersetzt von Mascha Dabić


Martina Wunderer, Berlin im September 2009