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Von mir zu ihm und zurück, zu einem anderen Ich – ein Blick durch das russische Fenster

Rezension von Eva Schörkhuber

„Ich werde mich Rudi nennen.“
Rudi Stupar tritt einen Weg, einen Heimweg an, der ihn im Zuge seines, im Zuge eines Lebens über eine serbische Kleinstadt, über Belgrad, Budapest, München und Hamburg hinausführt an einen Ausgangs-, an einen Fluchtpunkt. Er fährt zurück, er sucht das Weite. In einem Zug. In vollen Zügen erfährt er sich als Chronist und Protagonist vieler Leben, in denen er jedes Mal dann, wenn er auf sich zurückkommt, das Weite des Vorstellbaren sucht.

 
„Ich werde mich Rudi nennen.“
Eine Verheißung, die gerade darin nicht bestehen kann, dass er sich selbst, dass er ein Selbst zur symbolischen Ordnung ruft. Ein ständiges Vergehen. Die erste Person Singular – ein Fluchtpunkt, der den Eigennamen des Autobiographen in den Schatten stellt, von ihm loskommen und gleichzeitig auf ihn, auf ihn allein hinauslaufen möchte. Ich. Rudi. Rudi Stupar. Protagonist des 2008 erschienenen Romans Ruski prozor [Das russische Fenster] von Dragan Velikić. Rudi. Ich. Stupar. Auf dem Weg von mir zu ihm, von der ersten zur dritten Person und zurück, zu einem anderen Ich. „Und was ist das eigentlich für ein Name? Rudi. Ohne Koordinaten.“


Ein geschichtsträchtiger Name, dennoch, obwohl unsichtbar, unscheinbar für die viel Zeit, viel Raum zurücklegenden großen Züge. Rudi, eine Jugendliebe jener Frau, welche das Namenlose begehrt hat. Rudi, der Sohn dieser Frau, die mit einer Heirat in einer kleinen Stadt in der Vojvodina zur Ruhe kommen wollte: des Suchens müde hat sie sich in den Ehestand gesetzt, hat ihre Zeit, die „Münchner Jahre“, versetzt, um ihre Tage im Takt einer Singer-Nähmaschine als Kostümbildnerin an einem Kleinstadttheater zu verbringen. Rudi, der Spross kleiner Verhältnisse, umsäumt von der Gewissheit, die einzig mögliche Variante zu leben (alles andere ist immer schon zurückgelegt, vernäht worden), eingespannt in eine Imperial-Schreibmaschine, auf welcher der „Chronist kleiner Welten“, der Vater, sein Leben auf die verpasste Gelegenheit hin abklopft, das Weite (in der Hauptstadt, in größeren Geschichten) zu suchen. Aber auch zwischen den Zeilen des Provinzjournalisten hat alles seine Ordnung, seine Richtigkeit in der Abfolge des Übersehenen: „Es reicht nicht, dass etwas passiert. Entscheidend ist, sich dazu zu bekennen.“ Rudi, ein Punkt, an dem die engen Bahnen zweier Leben zusammen laufen, ein Querschnitt schön versäumter Stoffe, ein Durchschlag der Chronik einer kleinen Welt. Rudi, ein grenzenloses Feld unverbrauchter Möglichkeiten, ein Rollenspiel – unendlich, ein Spiegel, in dem sich die Maßlosigkeit eines von Leben durchwirkten Augenblickes bricht.


„Wer war er überhaupt? Ein Schauspieler? Ein Regisseur? Ein Schriftsteller? Oder auch weiterhin nur eine Struktur, in die das Inventar des Fundus einer Provinzstadt eingeschrieben war, die scheinbar farblosen Leben seiner Bewohner, die geheimen Träume von einem Ort,
an dem es sich intensiver lebte und die Zeit schneller verging – wo die Vergangenheit tiefer, die Zukunft weniger vorhersehbar war.“


Mit diesen in jeweils unterschiedlichen Stimmlagen intonierten Fragen trägt Rudi Stupar sich durch seine Studentenjahre in Belgrad, durch Budapest, wo es ihn nach seiner Präsenzdienstverweigerung gleichsam hin verschlägt, durch München und Hamburg, die er jeweils aufsucht, um mit sich, diesem Selbst, dieser Heimsuchung, zu Rande, zu einem Rande zu kommen. Anhand dieser Fragen staffiert er seine Existenzen aus: zunächst seine Schauspieler-Existenz, die er als Unterpfand für eine ihm bestimmte Zukunft betrachtet. Dieses Talent  verausgabt sich allerdings in der privaten Vorstellung, berufen zu sein. Auf diese Berufung hören weder die Juroren des Aufnahmekomitees der Belgrader Schauspielschule noch der Berufene selbst, der es, anstatt dem Ruf zu folgen, vorzieht, auf sich warten zu lassen, sich selbst abzuwarten. Auf seinen Wegen durch die Städte, in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, inszeniert er die Möglichkeiten gegenwärtiger, vergangener und zukünftiger Augenblicke, spielt sie gegeneinander aus und taucht Zukünftiges in vergangenes, Gegenwärtiges in zukünftiges oder Vergangenes in gegenwärtiges Licht. Er führt Regie in dem Vorleben seiner ersten Freundin in Belgrad, deren frühere Liebhaber er mit römischen Kaisernamen versieht, um von ihnen etwas leichteren Herzens absehen zu können; die ohne Weiteres vorstellbaren Genrebilder, die sich hinter den abendlich erleuchteten Fenstern in den Budapester Straßen abzeichnen, werden zu Bühnenbildern, vor denen sich jene Geschichten abspielen, deren Stränge Rudi aus der Fadenscheinigkeit des Alltags zu ziehen und neu zu verknüpfen sucht; er arrangiert Geschichten, Lebensläufe, ohne sich, seinem Selbst, einen Platz auf dieser Bühne, die sich doch nur um ihn dreht, zuweisen zu können. Aus sich herausgehen, um auf ein Selbst zurückzukommen, sich vom Festland eines vergangenen, gegenwärtigen, zukünftigen Selbst übersetzen in ein anderes zukünftiges, vergangenes, gegenwärtiges Selbst – in diese Bewegung gerät Rudi in seiner Schriftsteller-Existenz. Die Aufgabe dieser Übersetzung besteht eben nicht darin, den roten Faden eines Lebens chronologisch aufzurollen, ihn als Demarkationslinie zwischen erlebtem und erträumtem Leben in Stand zu setzen, sondern vielmehr darin, die Ränder, die Säume zu verzeichnen, an denen sich verschiedene Geschichten, unterschiedliche  Lebensläufe bedeuten und überlagern. Diesen Rändern sowohl eigener als auch der Geschichten anderer geht Rudi nach, um auf ein Selbst zurückzukommen und immer wieder jenen Spalt – das russische Fenster – zu finden, „durch den er einem früheren Selbst zuzwinkern kann“.
Auf diese Art und Weise begeht er sozusagen die Geschichte Danijels, die er während der gemeinsamen Spaziergänge in Belgrad (als er sich als professioneller Spaziergänger verdient) auf Tonband aufgezeichnet hat und die als erster Teil des Romans eine Art Exposition bildet. Die Aufzeichnungen aus dem Leben eines Kleinbürgers (der Titel des ersten Abschnittes) klingen im zweiten mit Züge betitelten Teil nach und werden in diesem Sinne übertragen in und auf die Geschichten Rudis, der einmal feststellen wird, dass Danijel lediglich „Diener seiner Möglichkeiten“ geblieben sei. Aus den Erzählungen unterschiedlicher in Rudis Zügen immer wieder auftauchender Personen, die von sich, von sich ausgehend sprechen, setzt sich der dritte Teil – einige andere Geschichten – zusammen. Diese Stimmen, mit den aus den Zügen bekannten Eigennamen versehen, verdichten sich an dieser Stelle zu einem Echo, in dem die Züge, die sie in Rudis Geschichte angenommen haben, wiederum nachklingen, etwas verzerrt, wie ein Nachruf auf sich, also auf jenes Selbst, das sich in mehr oder weniger vollen Zügen abgezeichnet, behauptet und bedeutet hat. In diesem Nachruf nehmen sie sich, dieses Selbst, zugleich auch vorweg: zuletzt Rudi, im Dialog mit sich, mit ihm; auf du und du mit ihm, mit sich erzählt er von seinem Schreibprojekt:

 

»Hast du denn einen Titel?«
» >Aufzeichnungen aus dem Leben eines Kleinbürgers<.«
»Hast du einen Anfang?«
» >Ich bin krank. Da gibt es kein Vertun.< «
»Weiter, das ist nicht schlecht. Wenn du es gut organisierst, wird dir
alles gelingen.«
»Das ist für das Ende vorgesehen.«

 

Rudi ist zu dem Schluss gekommen, der den Beginn von Dragan Velikić’ Roman darstellen wird: Danijels Monolog beginnt mit dem von Rudi als Anfang in Betracht gezogenen Satz und findet sein Ende mit dem eben für das Ende vorgesehenen. Die Singularität der ersten Person gerät ins Schwanken, in Bewegung: „Ako se dobro organizuješ, sve ti je usput“/„Wenn du es gut organisierst, wird dir alles gelingen.“. Bei dem Versuch, alles zu organisieren, in eine kausalchronologische Ordnung zu bringen, entgleitet immer ‚etwas’, bleibt immer ‚etwas’ übrig, das sich nicht übertragen lässt, nicht eins zu eins.
In Velikić’ Text wird diese Bewegung, in die sein Protagonist Rudi Stupar als Schriftsteller gerät, indem er aus sich herausgehen, sich in ein anderes Selbst übersetzen möchte, in dreifacher Hinsicht aufgehoben – bewahrt, suspendiert und wieder aufgenommen, fortgesetzt: all die Geschichten, die in diesem Roman zusammenlaufen, zusammengetragen werden, fallen auf ihn, Rudi Stupar, zurück. Danijels Erzählung wird letztendlich von Anfang an Rudis Geschichte gewesen sein, die er abgeschrieben hat, in der er sich, ein anderes Selbst, abgeschrieben hat. In der den zweiten Teil des Romans abschließenden Signatur („Ich werde mich Rudi nennen.“) wird er, Protagonist einer dritten Person, deren erlebte und erträumte Lebenssequenzen Gegenstand der Erzählung waren, sich in großen und kleinen Zügen zurückgelegt haben, gleichsam durchgestrichen: er ruft sich in seinem Namen ins Leben als dessen Chronist und Protagonist. In diesem Schriftzug vollzieht sich in mehrerer Hinsicht eine unablässig fortgesetzte Reise, die einem permanenten ‚déplacement’ insofern
entspricht, als es kein ‚Zurück’ an einen klar umrissenen Ausgangspunkt gibt: Rudi kann als Chronist und Protagonist eines, seines Lebens nicht auf sich – wie er es, dieses Selbst, sich immer wieder vorgestellt hat – zurückkommen; ebenso wenig kann er zurück in jene Kleinstadt, die er viele Jahre zuvor verlassen hat.
Und doch ist er immer wieder von ihr ausgegangen, dieser Provinzstadt, die er schon verlassen hat, als auch er noch seine Tage im Rhythmus der Imperial-Schreibmaschine, im Takt der Singer-Nähmaschine verbracht hat. Er ist von ihr ausgegangen, in Belgrad, in Budapest, auch in München und Hamburg – noch oder schon wieder, um sich auf sie zurückzuführen, sich, vor allem in Belgrad, der Hauptstadt, auch auf sie auszureden, während er andernorts das Weite gesucht hat. Der Ausgangsort ist kein Fixstern, von dem aus man sich in die Welt projizieren kann, an dem sich EINE Herkunft, oder DER Ursprung einer Geschichte feststellen lässt. Er ist zum Fluchtpunkt geraten, von dem ausgegangen wird und an dem das, was auf ihn hinausläuft, wieder einen anderen Ausgang nehmen wird; ein Punkt, der nur in einem n-dimensionialen Koordinatensystem festzulegen wäre, in dem all jene Bewegungen eingeschrieben wären, welche die Möglichkeit eines Augenblickes bedingen. In diesem Sinne funktionieren die Städte, die Rudi durchläuft, in denen er sich aufhält nur, um von ihnen auszugehen, als Archive, die eine unüberschaubare Vielzahl an Zeichen versammeln, deren Bedeutungszusammenhang erst durch die – imaginierte, reale oder symbolische – Bewegung in der Stadt konstituiert und wieder aufgehoben wird. So haben sich in Belgrad Rudis Erinnerungen eingeschrieben, noch bevor er diese Stadt tatsächlich betreten hat. Als Ausgangspunkt von Rudis Flucht vor der Einberufung zum Präsenzdienst sucht sie ihre Vorstellung als imaginär erinnerte Stadt heim und entstellt diese zu anderen Geschichten. Als Wiedergängerin dieses Fluchtpunktes taucht sie Ende der 1990er Jahre wieder, diesmal in Budapest auf: von ihr sind all jene ausgegangen, die angesichts der Bombardierung Belgrads in Budapest ein Exil gesucht haben, um auf die eine oder andere Art und Weise, früher oder später, wieder auf Belgrad zurückzukommen. Belgrad, die bombardierte Stadt, schreibt sich ins Budapest der ausgehenden 1990er Jahre ein, übersetzt es in ein „serbisches Casablanca“, einen mitteleuropäischen Transithafen für historische, zeitgeschichtliche, politische, literarische Bedeutungszusammenhänge.
München, „wieder ein Anfang“ für Rudi, ein Aufbruch, um an kein Ziel zu gelangen, die „Münchner Jahre“ seiner Mutter klingen an, leise, zu leise, um auf sie die Fortsetzung der Reise zurückzuführen. Hamburg, aufgetaucht in München, während eines belanglosen Gespräches, warum nicht? – nach Hamburg, wo sich in der Silbersackstraße Budapester Wohnungen und Münchner Stadtteile in der Abenddämmerung ein Stelldichein geben. Streifzüge über die Reeperbahn, Budapest stiehlt sich wieder nach Hamburg – Hamburg als Ausgangspunkt der Recherche, die durch einen Namen und ein Skizzenalbum ausgelöst wurde, in denen wiederum ein anderer Namen vibriert, ein Name, in dem sich drei Tage und vier Nächte verdichten, verbracht in einer Budapester Wohnung. Die Sichtbarkeit all dieser Städte beruht auf jenen Bedeutungszusammenhängen, die sich nicht anhand biographischer, geographischer oder historischer Leitfäden abwickeln lassen, sondern sich anhand dieser bedeuten, begrenzen und überlagern. In diesem Sinne verweigern auch die Städte ihren Präsenzdienst: sie bilden nicht den topologischen Rahmen für eine jeweils auf sie beschränkte Exil-Erfahrung, anhand der sie sich als Exil-Ort identifizieren könnten, sondern sie konstituieren und rekonstituieren sich in der unablässig fortgesetzten Bewegung der Züge.
Der Roman Das russische Fenster von Dragan Velikić entzieht sich seinerseits einer Wehrpflicht, in die so genannte Exil-Romane oder so genannte Migrationsliteraturen genommen werden, wenn an sie der oft auch stillschweigend vorausgesetzte Anspruch gestellt wird, auf eine durch biographische, geographische oder historische Aspekte bestimmte Erfahrung und Situation restlos zurückgeführt werden zu können. Es handelt sich bei Velikić’ Text weder um die fiktive Biographie eines angehenden Schriftstellers, noch um die Darstellung einer auf den Punkt gebrachten Exil- und Migrationserfahrung, sondern um eine Übersetzung dieses Angehens, dieser Migrationsbewegung, um eine Übersetzung, die sich ihrerseits den erlebten, versäumten, imaginierten und beschriebenen Möglichkeiten, sich, ein Selbst, in ein Leben und in eine Welt zu übersetzen, hinzufügt.


Rezension von: Dragan Velikić: Das russische Fenster. München: dtv 2008. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte.


Wien im September 2009